Vor 65 Jahren waren beide noch jung. Damals dachte niemand daran, dass Opa einmal ein Pflegefall mit Röhre im Hals werden würde. Und das Oma allein zu Hause ausharren müsste. Damals kannten sich die beiden ja noch nicht einmal.
Im Jahr 1943 lebte sie mit ihren Eltern in Berlin Friedenau, direkt neben der Eisenbahn, und er langweilte sich in einer Kaserne bei Küstrin, und wartete auf den Marschbefehl Richtung Osten.
Während für meinen Großvater der Krieg erst noch losgehen sollte, war meine Großmutter schon mittendrin, statt nur dabei.
Die Nächte verbrachte man im Luftschutzkeller. Zumindest einen Großteil davon. Irgendwann ging das Geheule los und dann trottete die Hausgemeinschaft in den Felssteinkeller unter dem Haus. Wenn irgendjemand fehlte, ging der Luftschutzwart noch mal los und hämmerte so lange an die verschlossenen Wohnungstüren, bis auch der letzte aus einem erschöpften Schlaf aufgewacht war. Zurückbleiben durfte niemand. Da gab es Vorschriften.
Wenn der Mond aufging, stand man am Fenster und schaute müde nach oben. Die Sicht war gut. Heute Nacht würde man sich garnicht erst ausziehen müssen. Das machte einfach keinen Sinn. Das war einfach nur Zeitverschwendung.
Unweit einer Eisenbahnstrecke war immer viel los. Entweder fuhren die Züge, oder aber die Bomber versuchten, die Gleise zu zerstören. "Da fuhren auch viele Militärzüge. Wir hörten die oft schon aus der Ferne. Wir hörten die jungen Soldaten, wie sie sangen.", erzählte sie mir und schüttelte dabei den Kopf. "Ich will mal wissen, wo die hin sind. Schliesslich war Potsdamer Platz doch ein Kopfbahnhof. Da gings doch nicht weiter."
Es war ein Eisenbahnerhaus, in dem meine Großmutter mit ihren Eltern und ihrer Schwester lebte, rustikal gebaut, der Keller aus Felssteinen gemauert. Das Ding steht heute noch wie eine rote Festung, die unverwüstlich direkt neben dem Bahnhof Friedenau thront. Für alle Zeit. Ein dunkles Gemäuer aus einer anderen Zeit.
"Wenn die Bomben fielen, dann wackelte alles. Der Kalk rieselte von der Decke", sie hob die Hände leicht über den Kopf und tat so, als fiele grauer Putz auf ihren Kopf, die Augen nach oben gerichtet. "Und Herr Kunjek..", sie überlegte kurz, bevor sie fortfuhr, "der war so um die Fuffzig. Der war im ersten Weltkrieg schon Soldat! Der saß immer da, mit einer Schaufel in der Hand, als wenn er beten würde. Es hiess, der sei damals verschüttet worden!", sie tat so, als würde sie sich auf eine Bank kauern, eine Schaufel zwischen den Händen.
Der Krieg gehörte zum Alltag, die Bomben waren Alltag, die Todesangst war Alltag. Aber in diesem Alltag ging das Leben einfach weiter seinen gewohnten Gang. Man hatte sich damit arrangiert.
Die Schwester meiner Großmutter hiess Tante Martha. Natürlich nicht damals, im Jahr 1943. Da hiess sie einfach nur Martha, aber später, als mein Vater das Sprechen anfing, wurde sie zu "Tante Martha" und blieb es auch bis zu ihrem Tod.
Im Unterschied zu meiner Großmutter hatte Tante Martha ein breites, typisch slawisches Gesicht, eine rustikale, kräftige Frau, die einen mitunter anstrengenden Charakter hatte. Sie ähnelte ihrer herrischen Mutter wie ein Ei dem anderen.
Tante Martha war 1943 zwanzig Jahre alt und arbeitete als Krankenschwester im Reservelazarett am Barbarossa-Platz. Die jungen Männer, die man dort einlieferte, hatten allesamt einen weiten Weg hinter sich, verwundet an einer der vielen Fronten des zweiten Weltkrieges. Eines Tages brachte man einen jungen Mann von der Ostfront, dem ein Scharfschütze durch den Hals geschossen hatte. Dieser junge Mann hiess Erich und weil er keine Verwandten hatte, die sich um ihn kümmerten, übernahm Tante Martha diesen Job. Interessanterweise spielte dabei meine Urgroßmutter Johanna, die die Mutter meines Großvaters war (der meine Großmutter, also Tante Marthas Schwester, zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht kannte), eine entscheidene Rolle.
Uroma Hanni (wie wir sie später, als ich noch ganz klein war, alle nannten) war Tante Marthas Stationsschwester. Und als Stationsschwester sorgte sie sich nicht nur um die Verwundeten, sondern auch um die jungen, unverheirateten Schwestern. Und was lag da näher, als die armen, im Krieg für die deutsche Sache verstümmelten Soldaten mit ein paar jungen, fürsorglichen Schwestern zusammen zu bringen.
"Martha, der Soldat Doppelstein hat keine Familie hier in der Stadt. Und verlegt kann der auch nicht werden. Magst du dich nicht mal zu ihm ans Bett setzen und dich ein wenig mit ihm unterhalten?", fragte also eines Tages Stationsschwester Johanna und Schwester Martha kam dieser Bitte nach. Schliesslich hatte die Stationsschwester ja das Sagen. Eine solche Bitte auszuschlagen, wäre möglicherweise keine gute Idee gewesen.
Damals war eine andere Zeit.
Kurz darauf heiratete Tante Martha Onkel Erich, den kriegsversehrten Ostfrontveteranen. Auf dem Hochzeitsfoto lächeln beide schüchtern in die Kamera, sie in einem schlichten weissen Brautkleid, er in seiner Uniform. Tante Marthas (und Omas) Eltern stehen daneben und mehr Leute waren dann auch schon nicht mehr dabei. Das Foto wurde in der Wohnstube aufgenommen, alles wirkt darauf sehr schlicht und einfach. Es war, wie gesagt, eine andere Zeit, und wenn man das Bild sieht, dann fragt man sich fast zwangsläufig, wie bei so viel Einfachheit wohl das Hochzeitsmahl ausgesehen haben mag. Vermutlich auch sehr schlicht. Aber mit Schnaps.
Tante Martha wurde schwanger. Vermutlich war der erste Schuss gleich ein Treffer, aber weil Tante Martha dem Typ "Rubensmodell" zuzurechnen war, bemerkte das zunächst niemand.
"Die war immer mollig, und als sie um den Bauch herum etwas breiter wurde, ist das niemandem aufgefallen", sagte Oma, und natürlich konnte sie sich nicht verkneifen, noch anzufügen: "Ich war ja ganz schlank. Das war ja überhaupt kein Vergleich!"
Aber die Schwangerschaft verlief nicht wie erwartet. Nicht nur, dass Tante Martha die Schwangerschaft nicht anzusehen war - nein, sie konnte auch das Kind nicht spüren. Es rührte sich nicht. Im Uterus war es mucksmäuschenstill. Im sechsten Monat dann ging Tante Martha ins Krankenhaus und nach einer kurzen Untersuchung beschied der Arzt denkbar knapp: "Das Kind ist tot. Wir müssen das holen. Morgen Vormittag machen wir eine Operation!"
In der kommenden Nacht schien der Mond. Seine große helle Scheibe erleuchtete die ganze Stadt und selbst die Verdunklung konnte nicht das Häusermeer vor den herannahenden Bombern verstecken. Am nächsten Morgen standen Tante Martha und Onkel Erich vor den rauchenden Trümmern der Operationssäle.
"Wir lassen Sie nach Schlesien bringen. Dort gibt es noch intakte Krankenhäuser.", hiess es, aber jetzt regte sich Widerstand in Tante Martha. Sie wollte Berlin nicht verlassen. Sie wollte nicht in irgendeinem Bummelzug Richtung Osten gekarrt werden. Sie würde hier bleiben, bei ihrer Familie und bei ihrem Mann. Im Krankenhaus konnte man über so viel Sturheit nur den Kopf schütteln. Dann eben nicht.
Herr Kunjek saß mit seiner Schaufel in der Hand, den katatonischen Blick an die Decke geheftet, auf einer Holzbank und schickte stumme Gebete gen Himmel. Draussen war es dunkel und man konnte die Flak auf dem Insbrucker Platz hören, ein gedämpftes Wummern in der Nacht.
"Haben'se jehört", fragte Frau Schmidt in die Runde, "die schicken uns jetze schon Neger aufn Hals. Neulich, in der abgeschossenen Maschine, haben'se een jefunden!"
Natürlich hatte das schon die Runde gemacht. Seit Tagen hatte es kaum ein anderes Thema gegeben. Die Neger! Vielleicht waren die Amis ja doch langsam am Ende, wenn sie jetzt schon die Affen schicken mussten.
Tante Martha und die anderen hatten ganz andere Probleme - nämlich das tote Kind im Unterleib. Onkel Erich hatte die Hände über den Kopf gefaltet, meine Oma sass klein und schmal daneben, unfähig, etwas zu sagen.
Irgendwo draussen rummste es und der Kalk rieselte wieder mal vond er Decke. Wie viel Kalk so eine Decke wohl abrieseln konnte, bis sie einstürzte?
Herr Kunjek fing an zu zittern.
"Nun mal gut mein Lieber. Uns passiert hier schon nüscht!", sagte Frau Schmidt. Sie war eine rundliche Frau mit rosigen Wangen. Ihr Mann, Herr Schmidt, war Lokführer und irgendwo draussen unterwegs, mit seinem Zug. Keiner konnte sagen, wo der jetzt steckte.
"Hier, damit se mir nich durchdrehen", sagte sie und holte eine Flasche aus ihrem Koffer, in der eine durchsichtige Flüssigkeit hin und her schwapte.
"Allerfeinster Kartoffelschnaps!"
Die Schmidts brannten selber, hinten am Bahndamm in ihrem Schrebergarten.
Der Kartoffelschnaps war berüchtigt. Wenn man so will, war er so etwas wie ein Glücksbringer. Immer, wenn es draussen anfing, heiss her zu gehen, holten die Schmidts die Flasche raus und dann gab es ein paar Runden aufs Haus, und die meisten nahmen ein Glas. Oder zwei. Nur Tante Martha zierte sich für gewöhnlich, und so auch diesmal.
"Willst du wirklich nicht, mein Kind?", fragte Frau Schmidt und Tante Martha schüttelte den Kopf.
"Mir gehts nicht gut", sagte sie stattdessen, aber das schien für Frau Schmidt kein Argument zu sein.
"Na dann erst recht!", sagte sie.
Mein Urgroßvater war ein zurückhaltener Mensch, der niemanden gerne Vorschriften machte. Er hatte zu Hause nicht die Hosen an - das hatte eher seine dralle, grobschlächtige Frau, meine Urgroßmutter (nein, nicht Uroma Hanni - obwohl die auch drall war). Und so war es ganz aussergewöhnlich, als er plötzlich zu vernehmen war: "Martha, das kann dir nicht schaden. Und dem Kind erst recht nicht. Nimm einen ordentlichen Schluck, und vielleicht kannst du dann etwas schlafen"
Irgendwo draussen rummste es, der Kalk puderte auf sie herab.
Und da nahm Tante Martha die Flasche und nahm einen Schluck Gkücksbringer-Kartoffelschnaps.
Es brannte im Hals, aber nicht unangenehm, und dann breitete sich eine wohlige Wärme in ihrem Bauch aus.
"Na, Schätzchen? Tut gut, nicht wahr?!", fragte Frau Schmidt und grinste.
Plötzlich wurde Tante Martha gekitzelt. Sie wollte sich beschweren, aber dann bemerkte sie, dass das kein gewöhnliches Kitzeln war. Es kam von innen. Und dann trat sie etwas und sie spürte, wie sich ihr Bauch spannte, wie sich die Haut dehnte.
"Oh Gott!", schnappte sie und hielt sich an Onkel Erich fest.
Das Kind lebte und es trat sie.
"Es bewegt sich!", rief Tante Martha.
Stille, bis auf die gedämpften Schläge der Flak.
"Es bewegt sich?", fragte Herr Kunjek. Es schien, als wäre er gerade aus einer tiefen Trance erwacht.
"Was?", fragten jetzt auch die anderen und dann gab es ein großes Durcheinander. Das Kind, es lebte! Was für ein Wunder!
"Siehste!", sagte Frau Schmidt, "Der jute Kartoffelschnaps kann sogar Tote zum Leben erwecken!"
Sechs Wochen später, Mitte des neunten Monats, wurde Onkel Hartmut geboren. Tante Martha sass auf dem Klo, als sie plötzlich ihre Rockschöße anhob und zwischen ihren Beinen einen kleinen Runden Kopf samt Haare ausmachte.
"Schau mal!", rief sie, und es ist nicht überliefert, wen sie damit gemeint hat.
Eine halbe Stunde später war das Kind auf der Welt. Mit der Küchenschere hatte man die Nabelschnur durchtrennt und als endlich die Hebamme herbei geeilt kam, gab es für sie nichts mehr zu tun.
"Des is een sehr scheenes Kind", sagte sie und schaute auf den kleinen Wurm, der viel zu früh auf diese Welt gekommen war, die Haut dünn wie Pergemant, ohne Finger- und Fussnägel, unfähig, mehr als ein klägliches Wimmern von sich zu geben.
"Man konnte jede Ader sehen!", erzählte Oma später.
An diesem Abend schien der Mond grausam und klar.
Tante Martha konnte nicht gehen. Also brachte man sie samt Bett nach unten, ebenso den kleinen Hartmut.
Die erste Nacht seines Lebens verbrachte er so friedlich schlafend im Luftschutzkeller, während die anderen um sein Bettchen saßen und Kartoffelschnaps tranken.
Draussen hämmerte die Flak und ab und an hörte man Bomben, die in der Ferne detonierten. Und Herr Kunjek schickte stumme Gebete in die Nacht.
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