Sonntag, 29. Mai 2011

Sie und Er

Im Bad ihrer Wohnung, in die sie 1958 einzogen, zusammen mit meinem Vater, der damals gerade 10 Jahre alt war, stehen seit meiner Kindheit (und vermutlich auch lange schon davor) zwei Zahnputzbecher. Auf dem einen steht "Sie" und auf dem anderen, man kann es erahnen, "Er".
Irgendwann, es ist noch nicht wirklich lange her, wurden beide Becher zu einem Symbol, unfreiwillig und subtil, doch für das sehende Auge durchaus bemerkbar:
In jenem Becher, auf dem "Sie" steht, steckt noch eine Zahnbürste, der andere ist leer. Und doch ist er noch da.

Sie haben mir die Geschichte, wie sie sich trafen, oft erzählt. Es ist tatsächlich so etwas wie eine romantische Liebesgeschichte, wenn es zu jener Zeit überhaupt so etwas wie Romantik gab. Und schliesslich waren sie bis zum Ende zusammen, 65 Jahre lang, ein ganzes Menschenleben, bis er dann kurz vor ihrem 64. Hochzeitstag gehen durfte.

Ich weiss nicht genau, wie sie künftig die Kraft finden wird, weiter zu machen. Im Moment hält sie sich sehr wacker und stellt neue Regeln auf, um zu funktionieren.
"Einmal am Tag vor die Tür gehen, und wenn ich nur um den Block laufe!", ist eine davon. Bisher hält sie das eisern durch.
Aber sie weint auch viel. Dabei war sie mitunter eine harte Frau, ansatzweise soziopathisch, manchmal ungerecht bis zum Abwinken. Aber das verliert jetzt immer mehr an Bedeutung.

Wie lebt man weiter, wenn man so lange zusammen war und dann einer vor dem anderen geht. Überkommt einen nicht ein namensloses Grauen? Am Ende des eigenen Lebens, wenn die Tage gezählt sind, möchte man den letzten Abschnitt nicht alleine gehen.
Und dann steht man damit alleine da, der Partner bereits vorausgegangen. Er hatte Begleitung, sie bleibt auf sich selbst gestellt.
Das ist ein Grund zum Weinen, über die Trauer hinaus.

Die Last der Erinnerung der gemeinsamen 65 Jahre ist gleichzeitig Trost.
Wenn sie nicht in dem Mausoleum der Wohnung sein könnte, in der sie nun seit 53 Jahren lebt, würde sie vermutlich noch schneller verwelken. So aber hat sie das Gefühl, dass etwas von ihm noch da ist, wie der Zahnputzbecher, dieser stumme Zeuge im Bad. Ich vermute, das hält sie aufrecht.

Ab und an denke ich an ihre Geschichten. Und daran, wie es ist, am Ende des eigenen Lebens alleine auf diese Geschichte zurückzublicken.

"Immerhin hatten wir diese lange Zeit miteinander. Viele haben das ja nicht. Das tröstet mich"

Ich weiss nicht genau, ob ich das glauben soll.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen