Sonntag, 17. Juni 2012

Die Zeit verrennt


  • Der kleine Mann ist vierzehn Monate alt. Er kann durch die Gegend rennen, ein paar Worte sagen, die nur wir verstehen ("Date!" heisst "Stift", "Daties!" ist der Plural, "Stifte" - um mal ein etwas abstraktes Beispiel zu nennen. "Auau" ist eine Katze und "Nane!" heisst "Essen".
  • Er ist einer der fröhlichsten Menschen, die ich kenne. Wenn man mit ihm durch den Supermarkt rollert und er versonnen im Einkaufswagen vor sich hin murmelt, dann schiesst den ringsum stehenden Frauen die Milch ein. Er hat riesige Augen und lange Wimpern und nicht selten wird er für ein Mädchen gehalten. Das mag auch an seinen blonden Locken liegen, aber im Grunde ist das egal.
  • Am Donnerstag fliege ich nach Schweden zu einer Hochzeit. Mit dem Bräutigam bin ich seit zwanzig Jahren befreundet und jetzt werde ich am Hochzeitstag als Taufpate eingesetzt. Ich bin etwas stolz und auch etwas ratlos: Wie baue ich zu meiner tausend Kilometer entfernt wohnenden Patentochter denn bloß ein persönliches Verhältnis auf?
  • Anfang Juli fliegen wir dann alle nach Schweden, die ganze Familie. Das wird bestimmt sehr schön und ab und an auch etwas anstrengend. Aber in erster Linie schön.
  • Mitte Juli: Spanien, Pamplona. Dann von dort 700 Kilometer auf dem Rad Richtung Westen. Mit mir zusammen reist mein alter Schulfreund S., der gerade beruflich gescheitert ist und den Kopf frei bekommen muss. Ich bin guter Dinge, dass das klappen wird.
  • Zwei Monate Elternzeit ist eine sehr schöne Erfahrung. Ich habe nur Mühe, mich wieder ins Berufsleben einzugliedern. Ständig Kopfschmerzen - die viele Zeit vorm Rechner bekommt mir nicht. Ich sollte vielleicht Landwirt werden.
  • Bis in einem Jahr dann wieder. 

Montag, 6. Juni 2011

1995er Rioja vom Edeka

Am Freitag ist seine Beerdigung und ich schreibe hier und da an seiner Grabrede. Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden, denn das ist ein Metier, auf dem ich schlichtweg keine Erfahrung habe.
Ist ja auch besser so.
Aber ich wollte das so, weil ich den Gedanken unerträglich finde, dass irgendein professioneller Grabredner seine Worthülsen aneinander schreibt und damit des Großvaters Leben konterkariert.
Schon bei anderen Beerdigungen fand ich das immer irritierend, wenn jemand, den man nie zuvor gesehen hat, etwas über einen Verstorbenen erzählte, den auch er nie zuvor gesehen hatte.
Diesmal habe ich etwas zu erzählen - schliesslich kannten wir uns ja lange genug - und so mache ich das diesmal einfach selbst.
Auch wenn es schwer fällt.

Ich glaube, es ist drei Jahre her. Da haben mir die beiden zum Geburtstag eine Flasche Wein geschenkt. Und manche Dinge sind für diese Generation dann doch sehr bezeichnend, wie zum Beispiel Sätze wie: "Das war die teuerste Flasche im ganzen Edeka. Die Filialleiterin persönlich hat sie uns empfohlen. Das ist bestimmt ein Spitzenwein!"
Ich kaufe keinen Supermarktwein. Das ist eine Art Mantra, vermutlich meine Art Snobismus für Arme, ein Gesetz. Es gibt tolle Weinläden mit netter Atmosphäre, wo man Weine verkosten und etwas Smalltalk dabei halten kann. Das Kaufritual ist fast genauso aufregend und interessant wie der Genuss des Weines zu später Stunde. Und ist man nicht auch ein verkappter Feingeist, wenn man Wein im kleinen, verschrobenen Weingeschäft um die Ecke kauft? Natürlich - das macht einen ja schon fast zum Philanthropen, wenn man den besessenen Weinverkoster hinterm Tresen mit Einkäufen im "20+€ pro Flasche" Segment belohnt, damit der am Ende des Monats über die Runden kommt.

Und jetzt freunde ich mich gerade mit diesem alten Supermarktwein an, der klaglos die letzten Jahre nicht-artgerechte Haltung in unserer Küche überstanden hat.
Er ist nicht mehr wirklich rot, es ist schon fast rostfarben, leicht orange an den Rändern...
Er hat was. Und er ist das angemessene Getränk, wenn man eine Grabrede verfassen will.

Dienstag, 31. Mai 2011

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# ...

  • "Ich verliere den Überblick über meine Brüste!", sagt Die bessere Hälfte und schaut ratlos an sich hinunter. Ich muss dann doch grinsen, wie ich ihr den Kleinen Mann reiche und sie immer noch mit Fragezeichen auf der Stirn den Still-BH öffnet. Es wurde dann die Linke - ihm war's egal.
  • Alle sagen, er sieht aus wie ich. Ich weiss nicht. Bestenfalls sieht er mir ähnlich als ich so alt war wie er jetzt. Aber auch da bin ich mir nicht sicher. In jedem Fall war es Liebe auf den ersten Blick.
  • "Der Wutzwerg!", so nennt ihn unsere Hebamme. Sie meint damit sein ungestümes Temperament, wenn etwas nicht schnell genug nach seinem Kopf geht, beispielsweise die Raubtierfütterung. "Der wird später, wenn er größer ist, die Bauklötze durch's Zimmer werfen..." Naja, wir werden sehen. Aber denkbar wäre es, wenn er etwas von mir hat.
  • Seine Schwester, Die kleine Madame, die jetzt garnicht mehr so klein wirkt - so im Vergleich - kommt mit ihm sehr gut zurecht. Mädchen in diesem Alter haben scheinbar eine ganz unbekümmerte und instinktgesteuerte Art, mit Säuglingen umzugehen.
  • Ich bin ganz froh, im Büro mit anderen Themen konfrontiert zu werden und mal Abwechslung vom ganzen Baby-Content zu bekommen. Nur "Kind" fordert auch nicht wirklich. Der besseren Hälfte geht's ähnlich, allerdings leidet sie immer noch unter Schwangerschaftsdemenz. Das ist der Zustand, in dem man schnell Dinge vergisst, die nicht unbedingt zur Kinderaufzucht gehören. "Man ist ganz fokussiert", sagte Lilli, eine Bekannte, die zwei Wochen vor uns geworfen hat. Vermutlich hat sie recht und die Evolution hat sich dabei etwas gedacht.
  • Kein Tag ist wie der andere. Immer dann, wenn man glaubt, besser in die Sache hinein zu wachsen, das Kind besser zu verstehen, kommt ein Horrortag, an dem Der kleine Mann kurz vorm Durchdrehen ist.
  • Irgendwann schlafen sie alle mal durch.

Sonntag, 29. Mai 2011

Sie und Er

Im Bad ihrer Wohnung, in die sie 1958 einzogen, zusammen mit meinem Vater, der damals gerade 10 Jahre alt war, stehen seit meiner Kindheit (und vermutlich auch lange schon davor) zwei Zahnputzbecher. Auf dem einen steht "Sie" und auf dem anderen, man kann es erahnen, "Er".
Irgendwann, es ist noch nicht wirklich lange her, wurden beide Becher zu einem Symbol, unfreiwillig und subtil, doch für das sehende Auge durchaus bemerkbar:
In jenem Becher, auf dem "Sie" steht, steckt noch eine Zahnbürste, der andere ist leer. Und doch ist er noch da.

Sie haben mir die Geschichte, wie sie sich trafen, oft erzählt. Es ist tatsächlich so etwas wie eine romantische Liebesgeschichte, wenn es zu jener Zeit überhaupt so etwas wie Romantik gab. Und schliesslich waren sie bis zum Ende zusammen, 65 Jahre lang, ein ganzes Menschenleben, bis er dann kurz vor ihrem 64. Hochzeitstag gehen durfte.

Ich weiss nicht genau, wie sie künftig die Kraft finden wird, weiter zu machen. Im Moment hält sie sich sehr wacker und stellt neue Regeln auf, um zu funktionieren.
"Einmal am Tag vor die Tür gehen, und wenn ich nur um den Block laufe!", ist eine davon. Bisher hält sie das eisern durch.
Aber sie weint auch viel. Dabei war sie mitunter eine harte Frau, ansatzweise soziopathisch, manchmal ungerecht bis zum Abwinken. Aber das verliert jetzt immer mehr an Bedeutung.

Wie lebt man weiter, wenn man so lange zusammen war und dann einer vor dem anderen geht. Überkommt einen nicht ein namensloses Grauen? Am Ende des eigenen Lebens, wenn die Tage gezählt sind, möchte man den letzten Abschnitt nicht alleine gehen.
Und dann steht man damit alleine da, der Partner bereits vorausgegangen. Er hatte Begleitung, sie bleibt auf sich selbst gestellt.
Das ist ein Grund zum Weinen, über die Trauer hinaus.

Die Last der Erinnerung der gemeinsamen 65 Jahre ist gleichzeitig Trost.
Wenn sie nicht in dem Mausoleum der Wohnung sein könnte, in der sie nun seit 53 Jahren lebt, würde sie vermutlich noch schneller verwelken. So aber hat sie das Gefühl, dass etwas von ihm noch da ist, wie der Zahnputzbecher, dieser stumme Zeuge im Bad. Ich vermute, das hält sie aufrecht.

Ab und an denke ich an ihre Geschichten. Und daran, wie es ist, am Ende des eigenen Lebens alleine auf diese Geschichte zurückzublicken.

"Immerhin hatten wir diese lange Zeit miteinander. Viele haben das ja nicht. Das tröstet mich"

Ich weiss nicht genau, ob ich das glauben soll.

Samstag, 21. Mai 2011

Das Leben und der Tod liegen dicht beieinander

Irgendwann 1984 oder 85 spazierten er und ich durch den Grunewald, unweit des Grunewaldsees, gemeinsam mit Bobby, dem Cockerspaniel. Damals, kurz vor dem Ende jener Zeit, als ich jedes zweite Wochenende bei meinen Großeltern übernachten musste, an der Schwelle einer Epoche, als mit Einsetzen der Pubertät die eigene Familie einem suspekt wird, fragte ich immer wieder nach dem Krieg und seinen Erlebnissen während dieser Zeit.
Ich erinnere mich, dass die meisten Geschichten einen beinahe humoresken Touch hatten und in seinen Erzählungen über jene Zeit von 1943 - 1945 so gut wie nie jemand starb. Aber je älter ich wurde umso bohrender und kritischer wurden auch meine Nachfragen und irgendwann wurden die Schilderungen vermutlich authentischer, weniger schön gefärbt - irgendwann ging es dann eben auch um den Tod, wenn auch eher nebenbei.
Damals, mit 12 oder 13 Jahren, war in meinen Vorstellungen jeder Soldat des zweiten Weltkriegs - also auch mein Großvater -  ein erwachsener Mann, und erst viel später, als ich vielleicht 25 oder 30 Jahre alt war, begriff ich, dass es alles Kinder gewesen waren, mit ihren 18 Lebensjahren, die da in die Welt geschickt und den unvorstellbarsten Albträumen und Abgründen des menschlichen Wesens ausgeliefert wurden. In seinen Erzählungen lagen plötzlich das Leben und der Tod manchmal nur Sekundenbruchteile auseinander. Auch wenn er sich weigerte, Details zu nennen, auf die ich ganz wild war, so begriff ich doch irgendwo in mir drin etwas von der Grausamkeit und Endgültigkeit dessen, was er erlebt hatte.
Ich hatte bestenfalls eine wage Vorstellung davon, dass diese Menschen so jung starben, dass sie alles verpassen sollten, wofür man in diese Welt geboren wird. Und so fragte ich ihn an diesem einen Vormittag, ob er damals oder heute an ein Leben nach dem Tod glauben würde.
"Da ist nichts, daran glaube ich nicht. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei"
Er sagte das sehr bestimmt, ohne jeden Zweifel und seit diesem Vormittag hatte ich mir seine Einstellung zueigen gemacht.
Da ist nichts. Punkt.

Nun, wenn da doch etwas sein sollte, dann weiß er seit kurzer Zeit mehr darüber als ich.

Mittwoch, 27. April 2011

...

  • Alle Babys haben blaue Augen, stand mal irgendwo. Ich glaube, das stimmt.
  • Ich weiss gar nicht, wo die Zeit nur hinrennt. Ein Tag ist einfach so vorbei, und dabei macht man nicht mal viel. Meistens trägt man ihn rum oder wickelt, oder schunkelt und wiegt ihn in den Armen. Oder man geht einkaufen. Neben der Säuglingspflege ist Einkaufen das große Ding. Intellektuell baut man aber eher ab.
  • 4 Stunden Schlaf pro Nacht. Mehr ist für Mädchen.
  • Sein Rhythmus zwingt mich dazu, lange, mitunter sehr lange, wach zu bleiben. Ein Tip, den wir bekommen haben: Wenn man schon so lange den Nachwuchs durch die Gegend tragen muss, dann wenigstens bei angeschalteter Glotze. Gesagt, getan. Jeden Abend bis eins, halbzwei Unterschichtenfernsehen galore. Ich habe dieser Tage viel über Prinz William und Kate gelernt. Wie gesagt - intellektuell gesehen ist das eine harte Zeit.
  • Wenn man seine Haare mal "wäscht" (also mal mit einem warmen Lappen drüber geht), dann sieht er anschliessend aus wie ein flauschiges Küken. Dann will man ihm immer durch die Haare fahren oder dran riechen.
  • Ich habe Begriffe gelernt wie "Sektio", "pathologisches CTG" oder "NDU" - immer mehr Menschen aus dem medizinischen Gewerbe sitzen dem Irrglauben auf, ich sei Arzt. Beunruhigend.
  • Wir waren am Wochenende in der Pflegeeinrichtung - den kleinen Mann zeigen. Keiner kann derzeit sagen, wie lange er noch leben wird. Soweit es das Morphium zugelassen hat, konnte er Freude andeuten. Er musste den kleinen Mann immer an den Füssen anfassen, die schlaff und verschlafen im Maxi-Cosi lagen, wie auch der ganze Rest. Am nächsten Tag hatte er bereits wieder vergessen, dass wir da waren.
  • Die kleine Madame kommt zur Zeit etwas zu kurz. Heute wollen wir aber Stockbrot machen und ich hoffe, ich kann mich dazu aufraffen.
  • Es gab einst eine Zeit, da konnte man ausschlafen. Und ich weiss, sie wird irgendwann wiederkommen, diese Zeit. Irgendwann.

Sonntag, 24. April 2011

Der kleine Mann

54cm, 3570 Gramm. Alles okay.
Ein großes Wunder, und ich denke, das hört auch nicht auf.