Montag, 19. April 2010

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Gestern das erste Mal zu ihm in die WG - Berlin Mitte, 11. Stock. Der Pfleger, ein angenehmer Typ mit Fleichtunneln in den Ohren, so groß, dass man locker den Zeigefinger durchstecken könnte, öffnet die Tür und zeigt mir das Zimmer. Er liegt dort, wirres Haupthaar, die Augen geschlossen und döst. "Heute ist er etwas müde", sagt M., der Examinierte, und brüllt ihn dann freundlich aus dem Schlaf. "Sie haben Besuch!" - ruft er direkt in sein Ohr, sehr laut - aber so ist das eben mit Schwerhörigen.
Er schlägt die Augen auf, schaut wirr, und fixiert mich dann. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und er gibt mir die Hand, seine Augen ganz klar und wach und ich denke "aha, also alles Butter. Das wird doch wieder"
Fünf Minuten und ein paar geschriebene Zeilen später weiss ich, dass er mich für einen Pfleger hält und auf Fotos weder mich noch den Rest seiner Familie erkennt. Eine Stunde lang konfrontiere ich ihn schriftlich Stück für Stück mit Fakten aus seinem sozialen Umfeld - und er weiss von nichts. Er schreibt, dass er gerne mit seiner Frau ein Eis essen gehen möchte, und dann schlägt er einen alten Focus auf, blättert darin und deutet bestimmt auf ein Foto von Maria Riesch. Ich frage, wer das ist und er nimmt einen Zettel und schreibt: "Meine Ehefrau".
Da liegt er dann also, wirres Haar, wirrer Geist, losgelöst aus seinem eigenen Leben, mit sich selbst und weiss nicht mehr, wer er ist. Und ich sitze daneben und frage mich,wie ich damit umgehen soll, und weiss es nicht. Zuerst: Ich will nicht mehr wiederkommen. Wozu auch? Ich komme ja zu einem Fremden. Aber dann: Es ist eben so, dass man nicht frühzeitig aufgeben darf. Vielleicht passiert ja doch noch etwas. Und vielleicht sollte ihm mal jemand die wirren Haare schneiden.

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