Samstag, 10. April 2010

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Seit Januar geht das jetzt so: Zwei bis dreimal die Woche ins Krankenhaus, sich das Elend anschauen, hoffen, bangen, Hoffnung fahren lassen, gleichgültig werden, auf alles scheissen. Jeden Tag telefonieren. Morgens und Nachmittags. Wie ist der Stand, was hat sich verändert, wie gehts ihm? Aber das alles geht irgendwie, ich funktioniere dabei. Das fällt leichter als erwartet, was vermutlich auch an der Gleichgültigkeit liegt, die irgendwann kam. Ihr gehts schlechter als ihm, denke ich manchmal, was aber auch kein Wunder ist. Es gab Zeiten, in den letzten Wochen, da war er nicht mehr er selbst. Nur noch eine demente Hülle kindgleicher Ahnungslosigkeit, mit offenem Mund ohne Zähne, dafür aber voller Schläuche. Ich habe mir das immer wieder angesehen. Am Anfang konnte ich kaum hinsehen, aber dann wuchs die Neugier, ja sogar Interesse an dem, was da medizinisch gerade abgeht. Sie bekam das aber alles mit und erkannte nach und nach, dass er nicht mehr derjenige war, den sie vor Jahrhunderten geheiratet hatte. Er verfiel und sie versuchte stark zu sein. Ständiges Auf und Ab. Mal war er schon so gut wie tot, dann plötzlich kurz vor der Wiederauferstehung. Dann wieder doch eher tot. "Vielleicht kommt er ja doch noch mal nach Hause", fragte sie ab und an, mit großen Augen, voller verzweifelter Hoffnung, und ich so, als Überbringer der schlechten Nachrichten: "Glaub' ich nicht". Sie nimmt mir das nicht übel und sie widerspricht auch nicht - ich bin wohl das Regulativ, das sie braucht um am Boden zu bleiben.

Er kann nicht mehr sprechen - seit Wochen schon nicht mehr. Sie sagt immer, dass sie das am meisten fertig macht. "Er will uns immer etwas sagen, aber ich verstehe ihn doch nicht!", sagt sie, andeutungsweise Verzweiflung in der Stimme. Ich werde dann heimlich wütend - wütend auf sie. Wütend über die Naivität, über das Ignorieren der Tatsachen. Und vor allem: Was hofft sie eigentlich zu hören? Was kann er wohl wohl noch sagen, das er in den letzten 63 Jahren mit ihr nicht schon gesagt hätte? Natürlich bin ich ungerecht. Aber die meiste Zeit ist nicht zu erkennen, dass er überhaupt noch etwas Sinnhaftes denkt. Er schaut uns manchmal an, als wenn er uns noch nie zuvor gesehen hätte. Oder aber er dämmert mit geschlossenen Augen vor sich hin, während der ganze Rotz Blasen werfend aus dem Luftröhrenschnitt sabbert. Sie schaut mich dann immer mit großen Augen an, als wolle sie sagen, ich solle etwas tun. Ihn da rausholen. Und dann, wenn ein bestimmter Teil seines Gehirns einen Stromstoß bekommt und sein Mund ein abwesendes Lächeln formt, so wie bei einem Säugling, wenn die Neuronen noch machen was sie wollen, dann sagt sie immer, voller Hoffnung "Schau mal, jetzt lächelt er! Schau doch!" - ganz so als ob ich es nicht selbst sehen würde. Nur: Dieses Lächeln bedeutet gar nichts, es ist nur ein Produkt des Zufalls. Dann werde ich nur noch wütender.
Ich fahre viel rum und telefoniere noch mehr. Sozialarbeiter, Krankenhaus, Pflegeeinrichtung, Amtsgericht - der ganze Behördenscheiss. Trotzdem bleibt da immer dieser Blick, dass ich etwas tun soll, etwas unternehmen, damit es ihm besser geht oder ihr den Druck nimmt. Aber wenn ich mir alles anschaue, die ganze bekackte Gesamtsituation, dann denke ich, dass der Tod seinen Schrecken längst verloren hat.

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