Montag, 3. Mai 2010

Herr M. - Teil I.

Irgendwann im Februar hatte ich plötzlich eine Mail von Herrn M. im Postfach. Herr M. und ich waren beste Freunde - und zwar so ungefähr von der 6. bis zur 10. Klasse. Aber dann entwickelten wir uns sehr unterschiedlich. Während ich der ruhige, stille Langeweiler blieb, wurde er Punkrocker, fing an zu saufen wie ein Loch, kiffte wie eine ganze Hippiekomune um dann am ersten Mai Schaufensterscheiben von Sexshops einzuwerfen (um dabei beinahe einen seiner Zehen durch Spontanamputation zu verlieren). Wir lebten uns also ein wenig auseinander und nach ein paar exzessiven Saufgelagen bei ihm zu Hause, bei denen die Luft THC-geschwängert und die Badewanne vollgekotzt war, entschied ich mich, auf Abstand zu gehen. Das war einfach nicht mehr meine Welt und ich für so etwas damals nicht gemacht. Denn ich hatte den Hang, mich mitreissen zu lassen, zu saufen und zu kiffen und abzustürzen, verzweifelt und orientierungslos draussen herumzuirren und von Brücken zu reiern - alles nur, weil ich mir nicht die Blöße geben wollte, die Spaßbremse zu geben und nicht mitzumachen. Also stieg ich aus dieser Freundschaft aus, weil ich seinen Weg nicht mitgehen konnte oder wollte.
Herr M. war einer der intelligentesten Menschen, die ich bis dahin kannte. Ich bewunderte ihn für viele Dinge, die ihm leicht fielen und mir schwer. Er war schon mit 14 ziemlich belesen und er zeigte mir mit 12 den "Herrn der Ringe" und "Die Grüne Wolke". Er brachte mir bei, sauber zwischen wie und als zu unterscheiden und auf Genitiv und Dativ zu achten - das war irgendwie auch sein Verdienst.
Als er 12 Jahre alt war, beeindruckte er meine Mutter zutiefst mit seinen Kochkünsten. Männer, geschweige denn Zwölfjährige, kochten in der Welt meiner Mutter nicht, sie ließen sich bekochen. Der kleine Herr M. aber rückte eines Tages mit einer Tüte voller Zutaten an und kochte ganz unverblümt in Mutters Küche Spaghetti mit Tomatensoße. Und die Spaghetti waren wirklich gut, besser vielleicht sogar als das, was meine Mutter hätte machen können.
Als ich 14 war und das Rauchen anfing, da zog mich der Herr M. noch gerne damit auf. "Willst du auf Erwachsener machen, oder was soll das? Das sieht voll affig aus, wie du da mit deiner Zigarette rumstehst", verhöhnte er mich, und ich war sauer auf ihn - weil er recht und einen wunden Punkt getroffen hatte.
Mit 16 dann, wir waren auf einer Klassenfahrt, fing auch er schliesslich an zu rauchen und kurz darauf kamen noch Unmengen Sprit und Kannabis dazu. Er rasierte sich einen Iro, organisierte mit anderen einen Schulstreik und schrieb an einer Art revolutionären Schülerzeitung mit, kaufte sich Dog Martens und zerschnitt sich seine Jeans. Danach habe ich ihn nie wieder kochen sehen. Und zu uns nach Hause kam er auch nicht mehr.

Nach kurzer Zeit hatten wir keinen wirklichen Draht mehr zueinander, ausser eben jene exzessiven Gelage bei ihm Zuhause, zu denen er mich aus Höflichkeit einlud und zu denen ich aus Neugier auch ging - nur um dort ständig über meine eigenen physischen Grenzen zu stolpern. Aber diese Gelage waren eben echte Institutionen und es gehörte zum guten Ton, dort hinzugehen.
Zu dieser Zeit hörte ich aus erster Hand eine Geschichte, die später in die Analen einging: Herr M. war zusammen mit anderen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis in Neukölln unterwegs. Mit dabei waren noch Herr H. und auch Herr L. - und wie sie so durch den Neuköllner Kiez spazierten, drehte Herr M. unvermittelt ab und hielt zielstrebig auf einen Mercedes zu, der da am Strassenrand parkte. Damals war es sehr en vogue, bestimmte Symbole der kapitalistischen Spiessergesellschaft zu schänden und die randalierten Überreste zur Schau zu stellen - als eine Art Protest, wenn man so will - und eines dieser Symbole war der Mercedesstern. Herr M. hatte bereits eine ganze Reihe Sterne gesammelt und an diesem Abend sollte ein weiterer dazu kommen. Also lief er geradewegs auf genannten Mercedes zu und die anderen, mit denen er unterwegs war, verstanden nicht so richtig, was das jetzt werden sollte. Herr M. stellte sich vor die Kühlerhaube und umfasste den Stern, während die anderen erschrocken den Atem anhielten. Natürlich wussten sie, was er wollte, aber sie verstanden nicht, warum es ausgerechnet dieser Mercedes sein musste - wo doch in dem Mercedes Licht brannte und vier breitschultrige Türken samt Goldkettchenlametter saßen und fassungslos Herrn M. anstarrten, als dieser damit begann, an dem Mercedesstern zu rütteln. Das Auto fing an zu schaukeln, wie er da so rüttelte. Und drinnen schaukelten die vier Türken mit. Es muss ein kroteskes Bild gewesen sein: der mit dem Mercedesstern kämpfende Herr M. und die entgeisterten Schränke in Lederjacke samt Gel-Haaren im Innenraum - bis schliesslich einer der Türken die Fassung wiedergewann und die Tür öffnete. In diesem Moment erwachten auch die anderen aus ihrer Trance. Binnen kurzem wurden alle vierTüren aufgerissen und die Türken mühten sich, ihre massigen Körper aus dem Auto zu wuchten. Die anderen aus meiner Klasse, Zeugen dieses absurden Vorfalls und nicht weniger paralysiert, erwachten nun ebenfalls und riefen Herrn M. an, er solle gefälligst abhauen. Aber dieser rüttelte wie besessen. Er wollte diesen verdammten Stern haben, komme was wolle. Aber der STern gab nicht nach - er wollte einfach nicht geerntet werden.

tbc...

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