Dienstag, 28. September 2010

Der Absturz

Herr F. und ich sitzen gegenüber, durch einen Gang betrennt. Er auf der Südseite, ich auf der Nordseite des Gebäudes. Im Sommer steht den ganzen Nachmittag die Sonne auf Herrn F.'s Bürofenster - bei weitem kein großer Spass.
Die meiste Zeit lassen wir unsere Bürotüren offen und rufen uns zwischendurch unmotiviert Obszönitäten zu. Anfänglich war ich unsicher, wie das bei den Kolleginnen rechts und links des Ganges ankommt. Aber tatsächlich ignoriert man uns, und seitdem wir das wissen, gibt es Tage, an denen alle Dämme brechen.

Herr F. hat ein paar geflügelte Worte. Eines davon ist: "Das ist der Absturz!"
Der Absturz kann alles mögliche sein. Eine Mail, ein Anruf, eine SMS, wenn jemand auf unserem Gang vorbeiläuft, wenn niemand unseren Gang entlang läuft, wenn es regnet, schneit oder die Sonne scheint. Ständig stürzt irgendetwas ab - früher zumeist Herr F. selber, heute die ganze Welt drum herum.
Die Steigerung hat ein internationales Flair: "Das ist ja der Downfall!"
Anfänglich hatte ich ja gedacht, dass sich Der Absturz nicht steigern liesse, aber nach Der Downfall wusste ich es besser.
Manche Dinge brennen sich ein, und nach anderthalb Jahren habe ich das alles nicht schadlos überstanden. Vor ein paar Monaten sagte ich es dann auch das erste Mal. Ich las eine Mail, sah einen Berg von Arbeit auf mich zurollen und sagte:
"Das ist ja der Absturz"
Da war es, ich hatte es assimiliert. Unwiderruflich.

Es kann aber immer schlimmer kommen
Ich bin im Büro von Menschen umgeben, die ein Problem mit dem Partizip haben.
"Ich habe den Fernseher eingeschalten"
Dazu fiel mir noch nie besonders viel ein. Was soll man auch dazu schon sagen? Es läuft einem kalt den Rücken runter, wenn man so etwas hört.
Herr F. und ich saßen gemeinsam in einer Besprechung und vertrieben uns die Zeit mit Kurznachrichten zweifelhaften Inhalts, die wir uns gegenseitig schickten, als plötzlich jemand sagte:
"Dann haben wir den Cluster wieder angeschalten"
Im selben Moment hörten wir beide auf zu tippen und schauten uns an. Mein Gott, das ging durch Mark und Bein. Der Absturz! Wir schauten rüber zu Regine und sie schaute zurück und wir konnten es in ihrem Blick lesen, wie sie innerlich den Kopf schüttelte und eine Gänsehaut bekam.
"Und später haben wir den aktiven Knoten passiv geschalten"
Man konnte sehen, wie sich der Kreis der Anwesenden in zwei Teile spaltete: Jene, denen es die Schleimhäute zusammenzog und dann noch die anderen. Die Anderen blieben unberührt. Beinahe so, als könnten sie derartige grammatikalischen Amokläufe auch selbst begehen.

Man assimiliert. Ständig und unaufhörlich.
Neben Herrn F. wohnt Herr R., Meister der Datenbanken, dessen Körper Milchprodukte neuerdings für eine Bedrohung hält, die man bekämpfen muss
Ich besuche Herrn R. regelmäßig. Wir reden dann über die Arbeit, übers Kochen, Wochenenden, Reisen und was uns sonst noch so einfällt. Ab und an lästern wir auch über Kollegen, wie Herrn F. der das gut findet und sich daran gerne beteiligt. Er lästert auch mit Freude über sich selbst.
Vor ein paar Wochen dann stand in des Meisters Tür. Es gab Probleme. Herr F. saß im Nebenzimmer und hackte wild auf seiner Tastatur rum, Schmatzgeräusche von sich egebend. Vermutlich aß es etwas, aber das musste nicht sein. Herr F. konnte auch so schmatzen, wenn ihm danach war.
"Herr R.", sagte ich.
"Ja?", anwortete Herr R., wandte sich von seiner Tastatur ab um mich anzuschauen. Herr R. ist auch ein sehr höflicher Mensch.
"Ich denke, die haben den Rechner ausgeschalten"
Sagte ich. Dann folgte ein kurzer Moment der Stille, gefolgt von einem Moment der Erkenntnis. Dieser Moment war sehr schmerzhaft.
Plötzlich, aber nicht unbedingt unerwartet, verstummte das Schmatzen im Nebenzimmer. Es hatte wirklich gegessen, bis zu jenem einsamen Moment.
"Das ist ja wohl der Absturz!", liess sich Herr F. vernehmen.
Und er hatte recht.

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