Samstag, 2. Oktober 2010

Teddy - Teil 1

In den ausgehenden 70er Jahren wohnten wir in Friedenau.
Damals war dieser Teil von Schöneberg noch eine beschauliche Gegend, in der viele Familien wohnten, die zu dieser Zeit Latzhosen, Müsli und später Die Grünen (oder in Berlin: Die Alternative Liste) für sich entdeckten, eigene Kindergärten gründeten, und lustige Hinterhoffeste veranstalteten. 
Auf diesen Festen versammelten sich die Familien der Nachbarschaft, die Männer hatten Rauschebärte, die Frauen Hosen mit Schlag oder Wickelröcke und bestimmt kam damals noch niemand auf die Idee, sich die Achseln oder die Muschi zu rasieren. Die Erwachsenen boten ein ganzkörperbehaartes Inferno. 
Man saß zusammen, die Eltern soffen schlechten Rotwein oder absurde Teemischungen und wir Kinder, allesamt mit roten Bobbycars oder Bonanza-Rädern am Start (je nach Alter) mussten mit Apfelsaft oder Fassbrause vorlieb nehmen. Es war eine schöne Zeit, eine unschuldige Zeit, und die meisten Familien, die ich kannte, waren noch intakt. Damals, als ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war, kam Teddy in unsere Familie, obwohl mein Vater eigentlich ein Krokodil haben wollte - und keinen Hund.

Wir hatten einen kleinen Vorgarten und in diesem Vorgarten wollte mein Erzeuger einen Alligator oder ein Krokodil halten, dessen einzige Aufgabe darin bestanden hätte, Hunde, die an unserem Haus vorbeiliefen, zu fressen, zu zerreissen, zu zerfetzen. Er war irgendwann in einen Hundehaufen zu viel getreten und hatte daraufhin eine recht ausgeprägte Abneigung gegen die Vierbeiner entwickelt, welche sich in kruden Gewaltfantasien mit Krokodilen entlud.
Bis dann der Besuch aus Hamburg kam.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, woher wir das Ehepaar aus Hamburg kannten. Vermutlich vom Campingplatz, denn der war ja schliesslich irgendwo in der Lüneburger Heide, was für mein Verständnis nicht allzu weit weg war, von Hamburg.
Und weil man in Hamburg vermutlich schon immer mal darüber nachgedacht hatte, West-Berlin einen Besuch abzustatten, kamen die West-Berliner Campingnachbarn, also wir, da ganz gelegen. So machte man sich samt Cockerspaniel auf den weiten und nicht ganz ungefährlichen Weg durch die SBZ -  immer Richtung Osten, zur einsamen, demokratischen Insel im sozialistischen Ozean des Arbeiter- und Bauernstaates.

Aber weil Berlin schon immer seltsam war, mit seiner Lage und seiner Geschichte, dem Mythos und allem Drum und Dran, und irgendwie ein besonderes Karma hatte, etwas, dass Nicht-Berliner magisch anzog und das die Berliner selbst entweder nicht wahrnahmen oder als selbstverständlich empfanden - genau dieses Karma von Zwielicht, Zerrissenheit, Einsamkeit, Leben und Tod, war es, das den Cockerspaniel binnen 24 Stunden tot umfallen lies. Oder anders: Es überrollte ihn.
Einen kurzen Moment lang hatte man ihn aus den Augen gelassen, und schon rannte das unglückselige Tier auf die Strasse vor unserem Haus, als just in diesem Augenblick ein Auto des Wegs kam und PENG den Hund überfuhr. Auf der Stelle tot. Nichts mehr zu machen.

Natürlich drückte das auf die Stimmung. Das ganze Wochenende war im Eimer, der geliebte Hund fern der Heimat zu Tode gekommen. Ein tränenreiches Drama.
Ich vermute, dass meine Eltern leichte Schuldgefühle plagten, und so schlugen sie vor, ins Tierheim Lankwitz zu fahren. Vielleicht würde man ja dort einen neuen Hund finden. Wäre ja möglich, und gleichzeitig könnte man eine gute Tat vollbringen und eins der vereinsamten Geschöpfe retten.
Also fuhr man Tags darauf, einen Samstag, an jenen Ort der Traurigkeit, wo das vierbeinige Elend dicht gedrängt zusammen hauste und auf Erlösung hoffte. Meine Eltern und der untröstliche Besuch liefen vor den Käfigen auf und ab, aber während die jüngst verwaisten Hundeeltern beinahe teilnahmslos wirkten, blieb ausgerechnet der Mann vor einem Käfig stehen, bei dem man Empathie am wenigsten erwartet hätte: Mein alter Herr.

Auf der anderen Seite, jenseits der Gitterstäbe, sass er dann: Der braun-weisse Flokatiteppich mit Beinen. Er hatte die Form eines flauschigen Fasses, an dessen einem Ende sich ein wuchtiger Hundekopf mit langer Schnauze und Schlappohren befand, und an dessen anderen Ende der geschweifte, gebogene Schwanz gleichmütig auf der Erde ruhte. Und so gleichmütig schaute auch der ganze drollige Hund und musterte meinen Vater nicht unfreundlich.
Er fiel schon alleine deshalb auf, weil er in der zweiten Reihe saß, beinahe im Hintergrund, während alle anderen Hunde nach vorne drängten und mit wildem Gekläffe auf sich aufmerksam machen wollten. Er hingegen sagte kein Ton. Er legte nur den Kopf schief (ein Ohr baumelte jetzt unmotiviert in der Luft) und schaute meinen Vater an. Und mein Vater starrte fasziniert zurück. Liebe auf den ersten Blick.

Mein Vater war sehr schweigsam. Und dann, als alle wieder zu Hause waren, der Hamburger Besuch konsterniert, fragte mein Vater: "Ob der Hund morgen auch noch da ist?"
Meine Mutter verstand nicht und fragte nach, und als mein Vater ihr offenbarte, dass ihm der seltsame Hund nicht mehr aus dem Kopf ging, und er diesen Hund zu uns nach Hause holen wollte, war meine Mutter sprachlos.
"Wie? Kein Krokodil mehr?", fragte sie, aber er antwortete nicht. Er zu Scherzen aufgelegt. Die einzig relevante Frage war, ob morgen der Hund noch da sein würde. Ob meine Mutter überhaupt einen Hund im Haushalt würde haben wollen - das war egal. Wenn er etwas haben wollte, dann bekam er das auch.

Am nächsten Tag fuhren meine Eltern erneut nach Lankwitz, und ich kann nur vermuten, dass mein Vater aufgeregt und nervös war. Dieser Hund war für ihn bestimmt, er durfte einfach nicht schon anderweitig weggegeben worden sein. Bevor die Tore des Tierheims öffneten, lief mein Vater schon wie eine hospitalisierte Raubkatze im Zoo unruhig vor selbigen auf und ab. Und dann endlich öffnete man, mein Vater eilte zu jenem Käfig, vor dem er sich gestern spontan verliebt hatte. Die Aufregung hatte sich zu einem lärmenden Crescendo gesteigert, alles andere war unwichtig und sämtliche Krokodilsphantasien gehörten der Vergangenheit an. Warum, fragte er sich, hatte er den Hund nicht gleich gestern mitgenommen? Warum hatte nicht gleich gehandelt? Was würde er nur tun, wenn der Hund gestern...

Meine Mutter hatte Mühe, Schritt zu halten, aber dann erreichten beide - vermutlich leicht ausser Atem - jenen Käfig, in dem sich gestern noch der seltsame Hund befunden hatte. Aufgeregt schaute mein Vater hinein, sein Blick ging hin und her, und dann traf ihn der Schlag.
Der Hund war...

Oh, Telefon. Moment.

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