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Mittwoch, 20. Oktober 2010

Teddy - Teil 2


Er lag in einer Ecke, döste und scherte sich nicht um den Trubel um ihn herum.
Während die anderen Hunde meinen Vater begrüßten, wild bellten (manche sprangen sogar wie verrückt auf und ab), lag er - ganz die Ruhe selbst - im Hintergrund und streckte alle Viere von sich.
Mein Vater stand vor dem Käfig und verspürte Erleichterung.
"Welchen meinen 'se denn?", fragte der Tierpfleger und mein Vater deutete auf den schlafenden Flokatiteppich.
"Den Teddy? Den könn'se haben"
Man hätte denken können, der Hund hatte auf meinen Vater gewartet. Als der Tierpfleger den Zwinger betrat und die anderen Hunde nervös um seine Beine gingen, wohl wissend, dass einer von ihnen gleich in die Freiheit entlassen würde, stand Teddy langsam auf, gähnte, streckte sich genüsslich und schmatzte ein wenig mit der Schnauze, bevor er sich dem Wachpersonal zuwandte. Noch bevor der Man im Overall etwas sagen konnte, stand der Hund auf und lief zum Ausgang.
"Na det klappt ja!", sagte er und kurz darauf standen sie sich zum ersten Mal gegenüber: Auf der einen Seite meine Mutter und mein Vater, auf der anderen Seite Teddy, der jetzt freundlich mit dem buschigen weissen Schwanz wedelte und die beiden neugierig ansah.
"Sie sind denn die Dritten, die det mit dem versuchen", sagte der Pfleger und ich kann nur vermuten, dass meiner Mutter in jenem Moment mulmig zumute wurde. Mein Vater hingegen hatte keine Zweifel. Das war der Hund.
"Aber der is kinderlieb! Da machen'se sich ma keene Sorgen!"
Nachdem der Papierkram erledigt war, gab es noch eine Leine und ein Halsband (sowie etwas Hundefutter - war ja Sonntag) zum Abschied und dann standen sie vor dem Heim, mein Vater ebenso verunsichert wie meine Mutter.
"Der gehört ja wohl jetzt zur Familie", sagte meine Mutter und mein Vater konnte keineswegs sicher sein, dass das nett gemeint war.
Noch bevor sich meine Eltern Gedanken machen konnte, wie sich das Tier im Auto verstauen liesse, sprang er kurzerhand durch die geöffnete Beifahrertür in den Fussraum und fortan war dies, von Ausnahmen einmal abgesehen, sein Stammplatz.
In den kommenden Tagen und Wochen lebte sich Teddy mühelos bei uns ein. Genau genommen mussten wir uns wohl mehr an ihn gewöhnen, als er sich an uns. Er kam in die Wohnung, lief einmal durch alle Zimmer, achtete dann genau darauf, wo wir uns aufhielten und legte sich dann zufrieden ins Wohnzimmer und schlief ein.
Als ausgewachsener Rüde war er stubenrein, ging brav an der Leine (und zog manchmal, wenn er es eilig hatte), bellte ab und an, wenn jemand durch den Hausflur ging, verhielt sich aber ansonsten ruhig. Er war eine Seele von Hund und je länger wir in hatten, um so mehr fragten sich meine Eltern, warum der Fellball bereits zwei Mal im Tierheim abgegeben worden war. Irgendetwas musste mit dem Vieh doch nicht stimmen?
Und dann kam der Tag, an dem wir rausfanden, was mit Teddy nicht okay war.
Wir hatten es uns angewöhnt, am Wochenende mit Teddy in den Grunewald zu fahren und ihn dort im Grunewaldsee baden zu lassen. Halb Berlin findet sich zum Wochenende dort ein und führt seine Vierbeiner aus und seit Jahrzehnten hat sich daran nichts geändert - heute wie damals™.
Am Anfang kam mein Vater noch mit, aber dann, als der Hund nicht mehr wirklich neu (und deshalb auch nicht mehr ganz so spannend) war, übernahm meine Mutter nach und nach dem Job, sich um Teddy zu kümmern. Und diese Aufgabe ging dann langsam aber sicher zur Gänze auf sie über, bis mein Vater nichts mehr machte - auch nicht Gassigehen. Sicherlich, mein Vater hing an dem Hund. Aber da er den ganzen Tag arbeiten ging (also mein Vater, nicht der Hund), und meine Mutter deshalb schon einen Großteil der anfallenden Verpflichtungen den Hund betreffend übernahm, ergab es sich, dass der Hausherr schliesslich kaum noch etwas mit dem Hund unternahm.
Eines Tages fuhr dann also meine Mutter mit Teddy gerade zum Grundwald, Richtung Giftbude, als der Hund sich plötzlich im Fussraum des Beifahrersitzes aufbäumte und offenbarte, warum man ihn bereits zwei Mal ins Tierheim verbannt hatte:
Er machte einen krummen Rücken und begann wie verrückt zu zucken. Es war zunächst erschreckend, aber dann erkannte meine Mutter, dass der arme Hund nicht etwa einen epileptischen Anfall hatte, sondern stattdessen eine unsichtbare Lufthündin bestieg und sie heftig begattete. Es war ein dreissig Kilo schwerer, kompakter, weissbrauner Fellklumpen, der sich  mit der unsichtbaren Hundedame "Lady Sunshine" vergnügte, bis er plötzlich einen Schwall Hundesperma auf die Fussmatte ejakulierte, hilflos noch ein wenig weiterzuckte, bis er sich mühsam wieder unter Kontrolle hatte und erschöpft in die eigene Soße plumpsen liess (viel Platz war ja in dem Fussraum nicht). Irritiert schnüffelte er an seiner eigenen Wichse. Wo kam die denn her?, schien er sich zu fragen.
"Ach du Scheisse", machte meine Mutter. Fast wäre sie vor Schreck jemandem hinten drauf gefahren, was als Allegorie schon sehr passend war.
"Er hat die ganze Fussmatte versaut!", gab sie erbost zu Protokoll und der Hund saß daneben und schaute fröhlich, sich keiner Schuld bewusst. Mein Vater kratzte sich am Kopf und schaute ratlos. Und ich wusste nicht, worum es ging. Sperma? Davon hatte ich noch nie gehört. Klang wie Schnupfen.
Dieses Schauspiel wiederholte sich in den kommenden Monaten ab und an. Und als ich es einmal mitbekam (wir waren gerade auf dem Weg zum Teufelsberg auf der A100 Richtung Norden), musste ich wie verrückt kichern, während meine Mutter, die jetzt auf dem Beifahrersitz saß, den Hund zwischen die Beine gequetscht, panisch versuchte, ihre Beine in Sicherheit zu bringen (erfolglos, der Köter wichste ihr auf die Hosen).
"Das ist das Autofahren...", mutmaßte mein Vater, "Das Wackeln und vibrieren. Das macht ihn scharf!"
"Er hat auf meine Hose gespritzt! Mir ist es scheissegal, warum der das macht!", schimpfte stattdessen meine Mutter, in diesem Moment gänzlich humorlos. Ich lachte und der Hund, als er fertig war, schaute unschuldig - ja fast sogar ein wenig peinlich berührt.
Einmal bekam Teddy seine "Rammelattacke", wie wir es nannten, am Kontrollpunkt Dreilinden, als wir gerade auf den zweiten Grenzposten zurollten, wo wir unsere Pässe zurück bekommen sollten. Wieder saß meine Mutter auf dem Beifahrersitz, als das Gezucke anfing. Und als der Vopo, unsere Ausweise begutachtend, gerade in den Wagen schielte, saute Teddy wieder einmal ins Wageninnere.
"Wos hottn der Hund do?", fragte der Vopo, und meine Eltern wussten nicht, was sie sagen sollten.
"Der hat 'ne Rammelattacke", sagte stattdessen ich und der Vopo nickte. Wir verstanden uns.
So konnte es nicht weitergehen, beschloss meine Frau Mutter, und da sie ein durchaus praktischer Mensch ist, vereinbarte sie einen Termin beim Tierarzt, der ihm kurzerhand die Bommeln absäbelte.
"Der quält sich doch nur", meinte meine Mutter und auch wenn ich noch klein war, war die Vorstellung, dass man die "Eier amputierte" (wie mein Vater das nannte), doch ziemlich furchteinflößend.
Aber die Kastration löste das Problem. Fortan war Ruhe im Renault R 16 und spätestens ab da war Teddy der perfekteste Hund der Welt.
1979 holten sich meine Großeltern einen Cockerspaniel namens Bobby.
Vor dem ersten Zusammentreffen zwischen Bobby und Teddy hatten alle etwas Bammel, denn zwei Rüden, einer davon der Alte, der andere der Neue, ob das gutgehen würde? Aber Teddy kam in die Wohnung meiner Großeltern, sah den kleinen Bobby, lief auf ihn zu und schleckte ihm einmal breit über die Schnauze, um dann in die Küche abzudrehen. "Futter?"
Alle waren sehr erleichtert. 
Während Bobby immer die sehr englische Reserviertheit eines Zuchthundes beibehielt, war Teddy als Promenadenmischung eher der weltoffene Charakter. Er verstand sich mit so ziemlich jedem Hund, der ihm auf der Strasse oder im Wald über den Weg lief.
Aber er konnte auch anders.
Anfang der Achtziger fuhren wir regelmäßig in ein Ferienhaus in ein kleines Kaff in Hessen, und auf einer Reise begleiteten uns meine Großeltern samt Bobby. 
Eines Abends gingen wir spazieren, liefen mit den Hunden durchs Dorf und dachten an nichts Böses, als plötzlich ein Rudel Dorfköter um die Ecke geschossen kam und sich sofort auf Bobby stürzte. Bobby verschwand unter einem Bündel Hunde, es gab Gekeife, Gebrüll und Gejaule - meine Großeltern und wir anderen hilflos, überfordert, ja kopflos, so ein Getümmel war das, von jetzt auf gleich.
Der Einzige, der den Durchblick behielt, war Teddy. Jetzt zahlten sich seine Tierheimaufenthalte aus. Ihm machte keiner etwas vor, und so stürzte er sich laut kläffend auf den größten Hund, den er finden konnte, ging ihm an den Nacken und schleuderte ihn von sich weg. Der weisse Flokatiteppich wurde von jetzt auf gleich zum Raubtier, doppelt so breit, die Bürste bedrohlich aufgestellt, die Zähne gefletscht. Der andere Hund rutschte jaulend über den Asphalt, und noch ehe er begriff, wie ihm geschah, war Teddy wieder über ihn und schnappte nach seinem Hals. 
Wer auch immer dieser Hund war, in jenem Moment erkannten wir nicht mehr den knuddeligen, knuffigen Teddy. Dieser Hund machte gerade irgendwo einen Ausflug, und Dr. Jekyll hatte Mr. Hyde da gelassen.
Interessanterweise ging einen Ruck durch das gegnerische Rudel und sie liessen von Bobby ab.
Scheinbar hatte Teddy sich den Anführer herausgesucht, und um den war es schon nach kurzer Zeit nicht sehr gut bestellt - jaulend zog er sich zurück, und seine Meute verstummte und trippelte irritiert hinter ihm her. Was war hier los?, schienen ihre Gesichter zu fragen und Teddy stand breitbeinig und aufgeplustert, die Zähne gebleckt, knurrend vor ihnen. Er ließ keinen Zweifel daran: Er war in der Stimmung, ein paar Dorfköterärsche aufzureissen.
Langsam trat die Bagage den Rückzug an, ebenfalls knurrend, mit aufgestellten Hahnenkamm. Aber Teddy trieb sie vor sich her, bis mit einem Mal der Anführer umdrehte und davonlief, und seine Spießgesellen ihm folgten. Tipp, tripp, trapp, waren alle um die nächste Häuserecke verschwunden.
Und da drehte sich Teddy um und lief auf uns zu, ganz der Alte, als wenn nie etwas gewesen wäre, und schleckte Bobby über die Schnauze, ganz so, als wollte er sagen "war doch alles nur halb so wild. Hast ja mich!", während der englische Jagdhund noch benommen auf dem Boden hockte.
Diese Geschichte wurde zur Legende und Oma erzählt sie manchmal heute noch, wenn wir auf "Früher" zu sprechen kommen.
Überhaupt war der ganze Hund irgendwie legendär. Er hatte diese Gemütsruhe, die man sonst nur bei Golden Retriever findet (die Pummelfee ist so ein Gemütstier). Oft lag ich im Wohnzimmer auf dem Fussboden, spielte mit Lego oder Playmobil und benutzte Teddy dabei als Kopfkissen. Dann lag er nur da, mit meinem Kopf auf seinem riesigen Brustkorb, und schnaufte zufrieden.
Mit der Kastration hörte auch das gelegentliche Bellen auf, wenn jemand die Treppen hinauf ging und am Ende konnte niemand verstehen, warum dieser Hund jemals ein Tierheim von innen gesehen hatte.
Er liebte es, baden zu gehen. Und wenn er richtig schön nass war, wälzte er sich mit Wonne im Sand, bis der weisse Hund keine weisse Stelle mehr am Körper hatte. Dann musste man ihn abermals ins Wasser jagen, denn wie - bitte schön - hätte man dieses Wildschwein im Auto nach Hause transportieren sollen?
Er kannte keine Vorurteile, er war zu jedem gleichermaßen freundlich. Und doch unterschied er zwischen seinem Rudel, zu dem unsere gesamte Familie zählte, auch Bobby, und anderen. Bei anderen ging er manchmal auf Abstand, wenn es ihm zu viel wurde - wir hingegen durften alles mit ihm machen.
Er vertraute uns bedingungslos und wir vertrauten ihm ebenso. Damals lernten wir alle, warum man sagt, dass der Hund der beste Freund des Menschen ist.
Wir wussten nie, wie alt er war. Es gab grobe Schätzungen, aber niemand wusste etwas genaues.
1983 war er ungefähr zehn Jahre alt.
1983 fuhren wir in den Sommerferien nach Lechbruck am Inn und dieser Urlaub wurde der reinste Horror.
Ich bekam eine Lungenentzündung, mein Großvater eine Bronchitis. Mein Vater hatte mit spastischen Lähmungen zu kämpfen und Teddy hatte ein paar üble Zeckenbisse.
Nachdem wir irgendwie die zwei Wochen in Bayern herumbekommen hatten, traten wir gezeichnet die Heimreise an. Die Rückfahrt wurde ein Kraftakt. Mein Vater schwer krank, mein Großvater erst langsam auf dem Weg der Besserung. Ein Alptraum.
Wir Menschen wurden langsam wieder gesund, aber Teddy wurde immer ruhiger. Er lag nur noch im Wohnzimmer, verweigerte die Nahrungsaufnahme, an seinen Ellenbogen bildeten sich offene Stellen. Meine Mutter legte ihm mit Kamillentee getränkte Verbände um, aber das half nicht fiel. Er konnte sich kaum aufraffen, das Haus zu verlassen, und anstatt draussen fröhlich herumzuspringen, erledigte er nur schnell sein Geschäft und trottete dann unwillig zurück in die Wohnung.
Er verfiel zusehens, aber es war nicht auszumachen, was ihm eigentlich fehlte.
Eines Tages war ich draussen spielen, und als ich nach Hause zurückkehrte, fragte ich, wo meine Mutter sei.
"Sie ist mit Teddy beim Tierarzt", sagte mein Vater und etwas in seiner Stimme beunruhigte mich.
Eigentlich hatte ich nur etwas trinken wollen, um dann wieder raus zu gehen. Aber jetzt blieb ich und wartete auf die Rückkehr meiner Mutter.
Die Zeit zog sich schier endlos hin und als ich endlich ihr Schlüssel in der Tür hörte, traute ich mich nicht, aufzustehen.
Dann stand sie im Wohnzimmer, nur mit der Leine in der Hand und ich wusste, was das zu bedeuten hatte, auch wenn ich es nicht glauben wollte.
"Er war ganz ruhig, als sie ihn eingeschläfert haben", sagte sie später einmal.
"Er hat uns grenzenlos vertraut."
Meine Mutter hatte ihn nicht alleine gelassen.
Borreliose. Er muss am Ende unglaubliche Kopfschmerzen gehabt haben, sagte der Arzt.
Wir denken heute immer noch sehr oft an das zottelige Fellfass. Auch noch nach fast 30 Jahren. 

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Kartoffelschnaps

Vor 65 Jahren waren beide noch jung. Damals dachte niemand daran, dass Opa einmal ein Pflegefall mit Röhre im Hals werden würde. Und das Oma allein zu Hause ausharren müsste. Damals kannten sich die beiden ja noch nicht einmal.
Im Jahr 1943 lebte sie mit ihren Eltern in Berlin Friedenau, direkt neben der Eisenbahn, und er langweilte sich in einer Kaserne bei Küstrin, und wartete auf den Marschbefehl Richtung Osten.

Während für meinen Großvater der Krieg erst noch losgehen sollte, war meine Großmutter schon mittendrin, statt nur dabei.
Die Nächte verbrachte man im Luftschutzkeller. Zumindest einen Großteil davon. Irgendwann ging das Geheule los und dann trottete die Hausgemeinschaft in den Felssteinkeller unter dem Haus. Wenn irgendjemand fehlte, ging der Luftschutzwart noch mal los und hämmerte so lange an die verschlossenen Wohnungstüren, bis auch der letzte aus einem erschöpften Schlaf aufgewacht war. Zurückbleiben durfte niemand. Da gab es Vorschriften.
Wenn der Mond aufging, stand man am Fenster und schaute müde nach oben. Die Sicht war gut. Heute Nacht würde man sich garnicht erst ausziehen müssen. Das machte einfach keinen Sinn. Das war einfach nur Zeitverschwendung.

Unweit einer Eisenbahnstrecke war immer viel los. Entweder fuhren die Züge, oder aber die Bomber versuchten, die Gleise zu zerstören. "Da fuhren auch viele Militärzüge. Wir hörten die oft schon aus der Ferne. Wir hörten die jungen Soldaten, wie sie sangen.", erzählte sie mir und schüttelte dabei den Kopf. "Ich will mal wissen, wo die hin sind. Schliesslich war Potsdamer Platz doch ein Kopfbahnhof. Da gings doch nicht weiter."
Es war ein Eisenbahnerhaus, in dem meine Großmutter mit ihren Eltern und ihrer Schwester lebte, rustikal gebaut, der Keller aus Felssteinen gemauert. Das Ding steht heute noch wie eine rote Festung, die unverwüstlich direkt neben dem Bahnhof Friedenau thront. Für alle Zeit. Ein dunkles Gemäuer aus einer anderen Zeit.
"Wenn die Bomben fielen, dann wackelte alles. Der Kalk rieselte von der Decke", sie hob die Hände leicht über den Kopf und tat so, als fiele grauer Putz auf ihren Kopf, die Augen nach oben gerichtet. "Und Herr Kunjek..", sie überlegte kurz, bevor sie fortfuhr, "der war so um die Fuffzig. Der war im ersten Weltkrieg schon Soldat! Der saß immer da, mit einer Schaufel in der Hand, als wenn er beten würde. Es hiess, der sei damals verschüttet worden!", sie tat so, als würde sie sich auf eine Bank kauern, eine Schaufel zwischen den Händen.
Der Krieg gehörte zum Alltag, die Bomben waren Alltag, die Todesangst war Alltag. Aber in diesem Alltag ging das Leben einfach weiter seinen gewohnten Gang. Man hatte sich damit arrangiert.

Die Schwester meiner Großmutter hiess Tante Martha. Natürlich nicht damals, im Jahr 1943. Da hiess sie einfach nur Martha, aber später, als mein Vater das Sprechen anfing, wurde sie zu "Tante Martha" und blieb es auch bis zu ihrem Tod.
Im Unterschied zu meiner Großmutter hatte Tante Martha ein breites, typisch slawisches Gesicht, eine rustikale, kräftige Frau, die einen mitunter anstrengenden Charakter hatte. Sie ähnelte ihrer herrischen Mutter wie ein Ei dem anderen.
Tante Martha war 1943 zwanzig Jahre alt und arbeitete als Krankenschwester im Reservelazarett am Barbarossa-Platz. Die jungen Männer, die man dort einlieferte, hatten allesamt einen weiten Weg hinter sich, verwundet an einer der vielen Fronten des zweiten Weltkrieges. Eines Tages brachte man einen jungen Mann von der Ostfront, dem ein Scharfschütze durch den Hals geschossen hatte. Dieser junge Mann hiess Erich und weil er keine Verwandten hatte, die sich um ihn kümmerten, übernahm Tante Martha diesen Job. Interessanterweise spielte dabei meine Urgroßmutter Johanna, die die Mutter meines Großvaters war (der meine Großmutter, also Tante Marthas Schwester, zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht kannte), eine entscheidene Rolle.
Uroma Hanni (wie wir sie später, als ich noch ganz klein war, alle nannten) war Tante Marthas Stationsschwester. Und als Stationsschwester sorgte sie sich nicht nur um die Verwundeten, sondern auch um die jungen, unverheirateten Schwestern. Und was lag da näher, als die armen, im Krieg für die deutsche Sache verstümmelten Soldaten mit ein paar jungen, fürsorglichen Schwestern zusammen zu bringen.
"Martha, der Soldat Doppelstein hat keine Familie hier in der Stadt. Und verlegt kann der auch nicht werden. Magst du dich nicht mal zu ihm ans Bett setzen und dich ein wenig mit ihm unterhalten?", fragte also eines Tages Stationsschwester Johanna und Schwester Martha kam dieser Bitte nach. Schliesslich hatte die Stationsschwester ja das Sagen. Eine solche Bitte auszuschlagen, wäre möglicherweise keine gute Idee gewesen.

Damals war eine andere Zeit.
Kurz darauf heiratete Tante Martha Onkel Erich, den kriegsversehrten Ostfrontveteranen. Auf dem Hochzeitsfoto lächeln beide schüchtern in die Kamera, sie in einem schlichten weissen Brautkleid, er in seiner Uniform. Tante Marthas (und Omas) Eltern stehen daneben und mehr Leute waren dann auch schon nicht mehr dabei. Das Foto wurde in der Wohnstube aufgenommen, alles wirkt darauf sehr schlicht und einfach. Es war, wie gesagt, eine andere Zeit, und wenn man das Bild sieht, dann fragt man sich fast zwangsläufig, wie bei so viel Einfachheit wohl das Hochzeitsmahl ausgesehen haben mag. Vermutlich auch sehr schlicht. Aber mit Schnaps.

Tante Martha wurde schwanger. Vermutlich war der erste Schuss gleich ein Treffer, aber weil Tante Martha dem Typ "Rubensmodell" zuzurechnen war, bemerkte das zunächst niemand.
"Die war immer mollig, und als sie um den Bauch herum etwas breiter wurde, ist das niemandem aufgefallen", sagte Oma, und natürlich konnte sie sich nicht verkneifen, noch anzufügen: "Ich war ja ganz schlank. Das war ja überhaupt kein Vergleich!"
Aber die Schwangerschaft verlief nicht wie erwartet. Nicht nur, dass Tante Martha die Schwangerschaft nicht anzusehen war - nein, sie konnte auch das Kind nicht spüren. Es rührte sich nicht. Im Uterus war es mucksmäuschenstill. Im sechsten Monat dann ging Tante Martha ins Krankenhaus und nach einer kurzen Untersuchung beschied der Arzt denkbar knapp: "Das Kind ist tot. Wir müssen das holen. Morgen Vormittag machen wir eine Operation!"
In der kommenden Nacht schien der Mond. Seine große helle Scheibe erleuchtete die ganze Stadt und selbst die Verdunklung konnte nicht das Häusermeer vor den herannahenden Bombern verstecken. Am nächsten Morgen standen Tante Martha und Onkel Erich vor den rauchenden Trümmern der Operationssäle.
"Wir lassen Sie nach Schlesien bringen. Dort gibt es noch intakte Krankenhäuser.", hiess es, aber jetzt regte sich Widerstand in Tante Martha. Sie wollte Berlin nicht verlassen. Sie wollte nicht in irgendeinem Bummelzug Richtung Osten gekarrt werden. Sie würde hier bleiben, bei ihrer Familie und bei ihrem Mann. Im Krankenhaus konnte man über so viel Sturheit nur den Kopf schütteln. Dann eben nicht.

Herr Kunjek saß mit seiner Schaufel in der Hand, den katatonischen Blick an die Decke geheftet, auf einer Holzbank und schickte stumme Gebete gen Himmel. Draussen war es dunkel und man konnte die Flak auf dem Insbrucker Platz hören, ein gedämpftes Wummern in der Nacht.
"Haben'se jehört", fragte Frau Schmidt in die Runde, "die schicken uns jetze schon Neger aufn Hals. Neulich, in der abgeschossenen Maschine, haben'se een jefunden!"
Natürlich hatte das schon die Runde gemacht. Seit Tagen hatte es kaum ein anderes Thema gegeben. Die Neger! Vielleicht waren die Amis ja doch langsam am Ende, wenn sie jetzt schon die Affen schicken mussten.
Tante Martha und die anderen hatten ganz andere Probleme - nämlich das tote Kind im Unterleib. Onkel Erich hatte die Hände über den Kopf gefaltet, meine Oma sass klein und schmal daneben, unfähig, etwas zu sagen.
Irgendwo draussen rummste es und der Kalk rieselte wieder mal vond er Decke. Wie viel Kalk so eine Decke wohl abrieseln konnte, bis sie einstürzte?
Herr Kunjek fing an zu zittern.
"Nun mal gut mein Lieber. Uns passiert hier schon nüscht!", sagte Frau Schmidt. Sie war eine rundliche Frau mit rosigen Wangen. Ihr Mann, Herr Schmidt, war Lokführer und irgendwo draussen unterwegs, mit seinem Zug. Keiner konnte sagen, wo der jetzt steckte.
"Hier, damit se mir nich durchdrehen", sagte sie und holte eine Flasche aus ihrem Koffer, in der eine durchsichtige Flüssigkeit hin und her schwapte.
"Allerfeinster Kartoffelschnaps!"
Die Schmidts brannten selber, hinten am Bahndamm in ihrem Schrebergarten.
Der Kartoffelschnaps war berüchtigt. Wenn man so will, war er so etwas wie ein Glücksbringer. Immer, wenn es draussen anfing, heiss her zu gehen, holten die Schmidts die Flasche raus und dann gab es ein paar Runden aufs Haus, und die meisten nahmen ein Glas. Oder zwei. Nur Tante Martha zierte sich für gewöhnlich, und so auch diesmal.
"Willst du wirklich nicht, mein Kind?", fragte Frau Schmidt und Tante Martha schüttelte den Kopf.
"Mir gehts nicht gut", sagte sie stattdessen, aber das schien für Frau Schmidt kein Argument zu sein.
"Na dann erst recht!", sagte sie.
Mein Urgroßvater war ein zurückhaltener Mensch, der niemanden gerne Vorschriften machte. Er hatte zu Hause nicht die Hosen an - das hatte eher seine dralle, grobschlächtige Frau, meine Urgroßmutter (nein, nicht Uroma Hanni - obwohl die auch drall war). Und so war es ganz aussergewöhnlich, als er plötzlich zu vernehmen war: "Martha, das kann dir nicht schaden. Und dem Kind erst recht nicht. Nimm einen ordentlichen Schluck, und vielleicht kannst du dann etwas schlafen"
Irgendwo draussen rummste es, der Kalk puderte auf sie herab.
Und da nahm Tante Martha die Flasche und nahm einen Schluck Gkücksbringer-Kartoffelschnaps.
Es brannte im Hals, aber nicht unangenehm, und dann breitete sich eine wohlige Wärme in ihrem Bauch aus.
"Na, Schätzchen? Tut gut, nicht wahr?!", fragte Frau Schmidt und grinste.
Plötzlich wurde Tante Martha gekitzelt. Sie wollte sich beschweren, aber dann bemerkte sie, dass das kein gewöhnliches Kitzeln war. Es kam von innen. Und dann trat sie etwas und sie spürte, wie sich ihr Bauch spannte, wie sich die Haut dehnte.
"Oh Gott!", schnappte sie und hielt sich an Onkel Erich fest.
Das Kind lebte und es trat sie.
"Es bewegt sich!", rief Tante Martha.
Stille, bis auf die gedämpften Schläge der Flak.
"Es bewegt sich?", fragte Herr Kunjek. Es schien, als wäre er gerade aus einer tiefen Trance erwacht.
"Was?", fragten jetzt auch die anderen und dann gab es ein großes Durcheinander. Das Kind, es lebte! Was für ein Wunder!
"Siehste!", sagte Frau Schmidt, "Der jute Kartoffelschnaps kann sogar Tote zum Leben erwecken!"

Sechs Wochen später, Mitte des neunten Monats, wurde Onkel Hartmut geboren. Tante Martha sass auf dem Klo, als sie plötzlich ihre Rockschöße anhob und zwischen ihren Beinen einen kleinen Runden Kopf samt Haare ausmachte.
"Schau mal!", rief sie, und es ist nicht überliefert, wen sie damit gemeint hat.
Eine halbe Stunde später war das Kind auf der Welt. Mit der Küchenschere hatte man die Nabelschnur durchtrennt und als endlich die Hebamme herbei geeilt kam, gab es für sie nichts mehr zu tun.
"Des is een sehr scheenes Kind", sagte sie und schaute auf den kleinen Wurm, der viel zu früh auf diese Welt gekommen war, die Haut dünn wie Pergemant, ohne Finger- und Fussnägel, unfähig, mehr als ein klägliches Wimmern von sich zu geben.
"Man konnte jede Ader sehen!", erzählte Oma später.

An diesem Abend schien der Mond grausam und klar.
Tante Martha konnte nicht gehen. Also brachte man sie samt Bett nach unten, ebenso den kleinen Hartmut.
Die erste Nacht seines Lebens verbrachte er so friedlich schlafend im Luftschutzkeller, während die anderen um sein Bettchen saßen und Kartoffelschnaps tranken.
Draussen hämmerte die Flak und ab und an hörte man Bomben, die in der Ferne detonierten. Und Herr Kunjek schickte stumme Gebete in die Nacht.

Montag, 11. Oktober 2010

Oberst Bandelow

Wir sitzen zusammen im Aufenthaltsraum, Schwester Maria hat ihn gerade abgesaugt, und er sieht fast so aus wie immer: Lange Stoffhose, Hemd, Strickweste, Brille, ordentlich gekämmtes Haar, wache Augen. Der einzige Unterschied ist der Plastikaufsatz, der aus seinem Hals ragt.
Er schaut mich an und mir gehen langsam die Themen aus. Seit einer halben Stunde rede ich, und er schaut nur. Ab und an nickt er oder lächelt matt.
"Willst du deinen Sprechaufsatz haben?", frage ich schliesslich, als mir einfach nichts mehr einfallen will. Was soll ich auch erzählen. So viel passiert ja nicht.
Er zuckt mit den Schultern. Eigentlich heisst das nein, aber jetzt ist mir das auch egal.
Ich drehe mich um und hinter mir an einem anderen Tisch sitzt Schwester Maria jetzt und macht Papierkram.
"Kann Opa den Sprechaufsatz haben?", frage ich.
"Na klar!", antwortet Schwester Maria und kommt rüber.
Als Patient mit einem Tracheostoma muss man das Sprechen mit einem speziellen Aufsatz erst lernen, insbesondere den Speichel und das Schlucken zu kontrollieren.
Er wehrt sich nicht und schaut nur müde an mir vorbei. Ab und an hebt er die Zeitung, die vor ihm liegt, an  - nur um sie sofort wieder sinken zu lassen. Dann legt er flach die Hand auf das Papier und streicht sanft über die Oberfläche.
"Er redet nicht viel", sagt Maria und schaut jetzt Opa an. "Ja, Ihr Enkel ist da, da müssen Sie auch mal etwas sagen!"
Er zuckt nur mit den Schultern und lächelt pflichtschuldigst.
Als Maria wieder über ihren Ordnern brütet, schauen wir uns an. Er grinst verlegen.
"Tja, jetzt könnten wir uns unterhalten", sage ich und bin ebenfalls verlegen. Er zuckt nur lächelnd mit den Schultern. Als er keine Anstalten macht, einen Ton von sich zu geben, sage ich: "Sag' mal was"
Es ist mehr eine hilflose Bitte. Was soll ich auch machen. Das ist doch alles ein Elend ohne Ende. Der alte Mann, wie er verlegen grinst wie ein Schulmädchen.
"Hallooo!", macht er plötzlich und Speichel läuft ihm aus dem Mund. Schnell greift er nach einem Papiertuch und wischt sich den Mund ab. Seine Stimme ist ein hohes Krächzen, Gurgeln, Rasseln. Mit der alten Opa-Stimme hat das nicht mehr viel gemein.
"Na geht doch super!", höre ich mich sagen und komme mir reichlich bescheuert vor.
Dann wieder Schweigen. Wir sind jetzt wohl beide etwas unsicher, wie man ab hier weiter machen soll. Worüber reden? Wie ist das eigentlich mit seinem Kopf. Was ist darin nach den letzten Monaten eigentlich noch heile?
Dann plötzlich: "Morgens, wenn ich RBB schaue, dann ist es manchmal dunkel und manchmal hell. Das macht mich ganz nervös!", wieder diese hohe Kinderstimme, eine Karikatur dessen, was einmal seine eigene Stimme war.
Wir reden über das Problem. Und ich verstehe es nicht. Wie kann es in seinem Zimmer dunkel sein, wenn es draussen längst hell ist. Verwechselt er die Tag- und Nachtzeiten? Doch etwas kaputt?
Ich schlage ihm vor, ihm einen Kalender zu machen, in dem die Sonnenauf- und -untergänge angegeben sind. Als Antwort bekomme ich wieder das Achselzucken. Ist ihm auch egal.
Dann versandet unsere Unterhaltung wieder, das Meer zieht sich zurück, zurück bleibt der stumme Strand und etwas Gurgeln - das Gurgeln aus seinem Hals wenn er atmet.

Dann habe ich eine Idee. Gestern, beim Schreiben, dachte ich an Oberst Bandelow, einen deutschen Offizier, der Opas Gefangenenlager vorstand. Und wie Opa sich als dessen Neffe ausgab um eine Audienz zu bekommen, kurz bevor sie an die Franzosen übergeben werden sollten. Und wie dieser Offizier Opa half und ihn zum neuen Lagerleiter ernannte.
"Opa, erinnerst du dich an Oberst Bandelow?", frage ich.
Einen Moment lang regt sich nichts in seinem Gesicht, und ich will schon kapitulieren. Ist etwa dieser Teil seiner Biografie aus seinem Gedächtnis gelöscht worden? Dann plötzlich flackert ein Moment der Erkenntnis durch sein ganzes Gesicht, er schaut mich an und nickt.
"Ich musste da gestern dran denken. Die ganze Geschichte, wie du dich als sein Neffe ausgegeben hast", sage ich und denke an früher, als ich klein war und er mir im Wald immer von früher erzählt hat. Früher, dem Krieg, der Zeit in Frankreich und dem Theater, das er und andere Gefangene gegründet hatten und mit dem sie durch Frankreich von Lager zu Lager getourt waren.
Er überlegt kurz, lächelt und diesmal wirkt es echt. Und dann mit einem Mal: "Die wollten uns zu den Franzosen schicken. Und da wollte ja keiner hin! Und wir hatten ja Papiere bekommen, dass wir entlassen werden sollten, und plötzlich interessierte das niemanden mehr!" Wieder diese hohe Kinderstimme.
Ich kenne diese Geschichte. Natürlich. Wie auch alle anderen Geschichten.
Er konnte Geschichten immer spannend erzählen, und als ich klein war, und wir gemeinsam mit Bobby dem Cockerspaniel durch den Grundewald spazierten, waren diese Geschichten wie Märchen für mich, und an einem nasskalten, nebligen Sonntagmorgen konnte man sich kinderleicht in seine Erzählungen hinein versetzen.
Ich mache es jetzt genauso wie früher: Ich gebe ein, zwei Stichwörter und lege damit den Schalter um. Einmal angeschaltet, erzählt er mir, wie das mit Oberst Bandelow sich damals zugetragen hatte. Und da ist es fast so, als wenn ich wieder zwölf Jahre alt bin und wir gemeinsam durch den Schweinewald laufen und Bobby durch das Unterholz jagt.
Nach einer Stunde und etlichen Geschichten später, ist er erschöpft. Und als dann noch die Angehörigen von Frau Walter auftauchen (und später Frau Walter selbst, eingezwängt und festgeschnallt in ihrem Rollstuhl, der Blick wie immer starr und teilnahmslos geradeaus), verstummt er endgültig.

"Mensch, Sie können ja eine richtige Quasselstrippe sein!", sagt Schwester Maria jetzt und schaut von ihrem Papierkram hoch.
"Wenn die Oma da ist, redet er nie so viel.", fügt sie an.
Und dann erzählt sie, wie das morgens immer abläuft, wenn Opa fertig gemacht wurde und in den Gemeinschaftsraum geschoben wird. Dann wartet er immer schon auf Frau Walter. Oder Frau Walter wartet schon auf ihn.
"Sie sollten mal sehen, wie die beiden die Hälse recken, um zu schauen, wann der andere kommt. Und dann spielen sie zusammen Mensch Ärgere Dich Nicht"
"Ich glaube, das werde ich Oma mal besser nicht erzählen", sage ich.
Auch jetzt wirft er immer wieder einen verstohlenen Blick hinüber zum Nachbartisch, wo Frau Walter mit starrem Blick den Würfel auf den Tisch fallen lässt.
"So, so. Frau Walter und du, ihr spielt also jeden Tag zusammen?", frage ich und er gibt mir wieder nur sein ratloses Achselzucken. Scheinbar auch kein Thema, auf das er jetzt Bock hat.

"Du müsstest auch mal so viel reden wenn Oma da ist", sage ich zum Abschied. Er nestelt an seiner Zeitung herrum, die vor ihm auf dem Tisch liegt.
"Für Oma ist das wichtig. Das würde ihr gut tun, wenn sie sich mal wieder mit dir unterhalten könnte!" Er nickt stumm und schaut mich mit großen Augen an. Ich hoffe, er kann sich morgen noch an meine Worte erinnern, wenn es soweit ist.

Als ich gehe, drehe ich mich am Ende des Ganges noch einmal um. Da sitzt er immer noch am Fenster in seinem Rolli und streicht mit der flachen Hand über die Zeitung. Er wirkt ein wenig teilnahmslos, wie vergessen. Aus der Ferne sieht er aus wie immer, nur das eben nichts mehr so ist, wie es mal war. Und dann plötzlich, dreht er den Kopf und schaut hinüber - zu Frau Walter.
Der alte Mann. Was mag der wohl denken.

Samstag, 2. Oktober 2010

Teddy - Teil 1

In den ausgehenden 70er Jahren wohnten wir in Friedenau.
Damals war dieser Teil von Schöneberg noch eine beschauliche Gegend, in der viele Familien wohnten, die zu dieser Zeit Latzhosen, Müsli und später Die Grünen (oder in Berlin: Die Alternative Liste) für sich entdeckten, eigene Kindergärten gründeten, und lustige Hinterhoffeste veranstalteten. 
Auf diesen Festen versammelten sich die Familien der Nachbarschaft, die Männer hatten Rauschebärte, die Frauen Hosen mit Schlag oder Wickelröcke und bestimmt kam damals noch niemand auf die Idee, sich die Achseln oder die Muschi zu rasieren. Die Erwachsenen boten ein ganzkörperbehaartes Inferno. 
Man saß zusammen, die Eltern soffen schlechten Rotwein oder absurde Teemischungen und wir Kinder, allesamt mit roten Bobbycars oder Bonanza-Rädern am Start (je nach Alter) mussten mit Apfelsaft oder Fassbrause vorlieb nehmen. Es war eine schöne Zeit, eine unschuldige Zeit, und die meisten Familien, die ich kannte, waren noch intakt. Damals, als ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war, kam Teddy in unsere Familie, obwohl mein Vater eigentlich ein Krokodil haben wollte - und keinen Hund.

Wir hatten einen kleinen Vorgarten und in diesem Vorgarten wollte mein Erzeuger einen Alligator oder ein Krokodil halten, dessen einzige Aufgabe darin bestanden hätte, Hunde, die an unserem Haus vorbeiliefen, zu fressen, zu zerreissen, zu zerfetzen. Er war irgendwann in einen Hundehaufen zu viel getreten und hatte daraufhin eine recht ausgeprägte Abneigung gegen die Vierbeiner entwickelt, welche sich in kruden Gewaltfantasien mit Krokodilen entlud.
Bis dann der Besuch aus Hamburg kam.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, woher wir das Ehepaar aus Hamburg kannten. Vermutlich vom Campingplatz, denn der war ja schliesslich irgendwo in der Lüneburger Heide, was für mein Verständnis nicht allzu weit weg war, von Hamburg.
Und weil man in Hamburg vermutlich schon immer mal darüber nachgedacht hatte, West-Berlin einen Besuch abzustatten, kamen die West-Berliner Campingnachbarn, also wir, da ganz gelegen. So machte man sich samt Cockerspaniel auf den weiten und nicht ganz ungefährlichen Weg durch die SBZ -  immer Richtung Osten, zur einsamen, demokratischen Insel im sozialistischen Ozean des Arbeiter- und Bauernstaates.

Aber weil Berlin schon immer seltsam war, mit seiner Lage und seiner Geschichte, dem Mythos und allem Drum und Dran, und irgendwie ein besonderes Karma hatte, etwas, dass Nicht-Berliner magisch anzog und das die Berliner selbst entweder nicht wahrnahmen oder als selbstverständlich empfanden - genau dieses Karma von Zwielicht, Zerrissenheit, Einsamkeit, Leben und Tod, war es, das den Cockerspaniel binnen 24 Stunden tot umfallen lies. Oder anders: Es überrollte ihn.
Einen kurzen Moment lang hatte man ihn aus den Augen gelassen, und schon rannte das unglückselige Tier auf die Strasse vor unserem Haus, als just in diesem Augenblick ein Auto des Wegs kam und PENG den Hund überfuhr. Auf der Stelle tot. Nichts mehr zu machen.

Natürlich drückte das auf die Stimmung. Das ganze Wochenende war im Eimer, der geliebte Hund fern der Heimat zu Tode gekommen. Ein tränenreiches Drama.
Ich vermute, dass meine Eltern leichte Schuldgefühle plagten, und so schlugen sie vor, ins Tierheim Lankwitz zu fahren. Vielleicht würde man ja dort einen neuen Hund finden. Wäre ja möglich, und gleichzeitig könnte man eine gute Tat vollbringen und eins der vereinsamten Geschöpfe retten.
Also fuhr man Tags darauf, einen Samstag, an jenen Ort der Traurigkeit, wo das vierbeinige Elend dicht gedrängt zusammen hauste und auf Erlösung hoffte. Meine Eltern und der untröstliche Besuch liefen vor den Käfigen auf und ab, aber während die jüngst verwaisten Hundeeltern beinahe teilnahmslos wirkten, blieb ausgerechnet der Mann vor einem Käfig stehen, bei dem man Empathie am wenigsten erwartet hätte: Mein alter Herr.

Auf der anderen Seite, jenseits der Gitterstäbe, sass er dann: Der braun-weisse Flokatiteppich mit Beinen. Er hatte die Form eines flauschigen Fasses, an dessen einem Ende sich ein wuchtiger Hundekopf mit langer Schnauze und Schlappohren befand, und an dessen anderen Ende der geschweifte, gebogene Schwanz gleichmütig auf der Erde ruhte. Und so gleichmütig schaute auch der ganze drollige Hund und musterte meinen Vater nicht unfreundlich.
Er fiel schon alleine deshalb auf, weil er in der zweiten Reihe saß, beinahe im Hintergrund, während alle anderen Hunde nach vorne drängten und mit wildem Gekläffe auf sich aufmerksam machen wollten. Er hingegen sagte kein Ton. Er legte nur den Kopf schief (ein Ohr baumelte jetzt unmotiviert in der Luft) und schaute meinen Vater an. Und mein Vater starrte fasziniert zurück. Liebe auf den ersten Blick.

Mein Vater war sehr schweigsam. Und dann, als alle wieder zu Hause waren, der Hamburger Besuch konsterniert, fragte mein Vater: "Ob der Hund morgen auch noch da ist?"
Meine Mutter verstand nicht und fragte nach, und als mein Vater ihr offenbarte, dass ihm der seltsame Hund nicht mehr aus dem Kopf ging, und er diesen Hund zu uns nach Hause holen wollte, war meine Mutter sprachlos.
"Wie? Kein Krokodil mehr?", fragte sie, aber er antwortete nicht. Er zu Scherzen aufgelegt. Die einzig relevante Frage war, ob morgen der Hund noch da sein würde. Ob meine Mutter überhaupt einen Hund im Haushalt würde haben wollen - das war egal. Wenn er etwas haben wollte, dann bekam er das auch.

Am nächsten Tag fuhren meine Eltern erneut nach Lankwitz, und ich kann nur vermuten, dass mein Vater aufgeregt und nervös war. Dieser Hund war für ihn bestimmt, er durfte einfach nicht schon anderweitig weggegeben worden sein. Bevor die Tore des Tierheims öffneten, lief mein Vater schon wie eine hospitalisierte Raubkatze im Zoo unruhig vor selbigen auf und ab. Und dann endlich öffnete man, mein Vater eilte zu jenem Käfig, vor dem er sich gestern spontan verliebt hatte. Die Aufregung hatte sich zu einem lärmenden Crescendo gesteigert, alles andere war unwichtig und sämtliche Krokodilsphantasien gehörten der Vergangenheit an. Warum, fragte er sich, hatte er den Hund nicht gleich gestern mitgenommen? Warum hatte nicht gleich gehandelt? Was würde er nur tun, wenn der Hund gestern...

Meine Mutter hatte Mühe, Schritt zu halten, aber dann erreichten beide - vermutlich leicht ausser Atem - jenen Käfig, in dem sich gestern noch der seltsame Hund befunden hatte. Aufgeregt schaute mein Vater hinein, sein Blick ging hin und her, und dann traf ihn der Schlag.
Der Hund war...

Oh, Telefon. Moment.