Montag, 11. Oktober 2010

Oberst Bandelow

Wir sitzen zusammen im Aufenthaltsraum, Schwester Maria hat ihn gerade abgesaugt, und er sieht fast so aus wie immer: Lange Stoffhose, Hemd, Strickweste, Brille, ordentlich gekämmtes Haar, wache Augen. Der einzige Unterschied ist der Plastikaufsatz, der aus seinem Hals ragt.
Er schaut mich an und mir gehen langsam die Themen aus. Seit einer halben Stunde rede ich, und er schaut nur. Ab und an nickt er oder lächelt matt.
"Willst du deinen Sprechaufsatz haben?", frage ich schliesslich, als mir einfach nichts mehr einfallen will. Was soll ich auch erzählen. So viel passiert ja nicht.
Er zuckt mit den Schultern. Eigentlich heisst das nein, aber jetzt ist mir das auch egal.
Ich drehe mich um und hinter mir an einem anderen Tisch sitzt Schwester Maria jetzt und macht Papierkram.
"Kann Opa den Sprechaufsatz haben?", frage ich.
"Na klar!", antwortet Schwester Maria und kommt rüber.
Als Patient mit einem Tracheostoma muss man das Sprechen mit einem speziellen Aufsatz erst lernen, insbesondere den Speichel und das Schlucken zu kontrollieren.
Er wehrt sich nicht und schaut nur müde an mir vorbei. Ab und an hebt er die Zeitung, die vor ihm liegt, an  - nur um sie sofort wieder sinken zu lassen. Dann legt er flach die Hand auf das Papier und streicht sanft über die Oberfläche.
"Er redet nicht viel", sagt Maria und schaut jetzt Opa an. "Ja, Ihr Enkel ist da, da müssen Sie auch mal etwas sagen!"
Er zuckt nur mit den Schultern und lächelt pflichtschuldigst.
Als Maria wieder über ihren Ordnern brütet, schauen wir uns an. Er grinst verlegen.
"Tja, jetzt könnten wir uns unterhalten", sage ich und bin ebenfalls verlegen. Er zuckt nur lächelnd mit den Schultern. Als er keine Anstalten macht, einen Ton von sich zu geben, sage ich: "Sag' mal was"
Es ist mehr eine hilflose Bitte. Was soll ich auch machen. Das ist doch alles ein Elend ohne Ende. Der alte Mann, wie er verlegen grinst wie ein Schulmädchen.
"Hallooo!", macht er plötzlich und Speichel läuft ihm aus dem Mund. Schnell greift er nach einem Papiertuch und wischt sich den Mund ab. Seine Stimme ist ein hohes Krächzen, Gurgeln, Rasseln. Mit der alten Opa-Stimme hat das nicht mehr viel gemein.
"Na geht doch super!", höre ich mich sagen und komme mir reichlich bescheuert vor.
Dann wieder Schweigen. Wir sind jetzt wohl beide etwas unsicher, wie man ab hier weiter machen soll. Worüber reden? Wie ist das eigentlich mit seinem Kopf. Was ist darin nach den letzten Monaten eigentlich noch heile?
Dann plötzlich: "Morgens, wenn ich RBB schaue, dann ist es manchmal dunkel und manchmal hell. Das macht mich ganz nervös!", wieder diese hohe Kinderstimme, eine Karikatur dessen, was einmal seine eigene Stimme war.
Wir reden über das Problem. Und ich verstehe es nicht. Wie kann es in seinem Zimmer dunkel sein, wenn es draussen längst hell ist. Verwechselt er die Tag- und Nachtzeiten? Doch etwas kaputt?
Ich schlage ihm vor, ihm einen Kalender zu machen, in dem die Sonnenauf- und -untergänge angegeben sind. Als Antwort bekomme ich wieder das Achselzucken. Ist ihm auch egal.
Dann versandet unsere Unterhaltung wieder, das Meer zieht sich zurück, zurück bleibt der stumme Strand und etwas Gurgeln - das Gurgeln aus seinem Hals wenn er atmet.

Dann habe ich eine Idee. Gestern, beim Schreiben, dachte ich an Oberst Bandelow, einen deutschen Offizier, der Opas Gefangenenlager vorstand. Und wie Opa sich als dessen Neffe ausgab um eine Audienz zu bekommen, kurz bevor sie an die Franzosen übergeben werden sollten. Und wie dieser Offizier Opa half und ihn zum neuen Lagerleiter ernannte.
"Opa, erinnerst du dich an Oberst Bandelow?", frage ich.
Einen Moment lang regt sich nichts in seinem Gesicht, und ich will schon kapitulieren. Ist etwa dieser Teil seiner Biografie aus seinem Gedächtnis gelöscht worden? Dann plötzlich flackert ein Moment der Erkenntnis durch sein ganzes Gesicht, er schaut mich an und nickt.
"Ich musste da gestern dran denken. Die ganze Geschichte, wie du dich als sein Neffe ausgegeben hast", sage ich und denke an früher, als ich klein war und er mir im Wald immer von früher erzählt hat. Früher, dem Krieg, der Zeit in Frankreich und dem Theater, das er und andere Gefangene gegründet hatten und mit dem sie durch Frankreich von Lager zu Lager getourt waren.
Er überlegt kurz, lächelt und diesmal wirkt es echt. Und dann mit einem Mal: "Die wollten uns zu den Franzosen schicken. Und da wollte ja keiner hin! Und wir hatten ja Papiere bekommen, dass wir entlassen werden sollten, und plötzlich interessierte das niemanden mehr!" Wieder diese hohe Kinderstimme.
Ich kenne diese Geschichte. Natürlich. Wie auch alle anderen Geschichten.
Er konnte Geschichten immer spannend erzählen, und als ich klein war, und wir gemeinsam mit Bobby dem Cockerspaniel durch den Grundewald spazierten, waren diese Geschichten wie Märchen für mich, und an einem nasskalten, nebligen Sonntagmorgen konnte man sich kinderleicht in seine Erzählungen hinein versetzen.
Ich mache es jetzt genauso wie früher: Ich gebe ein, zwei Stichwörter und lege damit den Schalter um. Einmal angeschaltet, erzählt er mir, wie das mit Oberst Bandelow sich damals zugetragen hatte. Und da ist es fast so, als wenn ich wieder zwölf Jahre alt bin und wir gemeinsam durch den Schweinewald laufen und Bobby durch das Unterholz jagt.
Nach einer Stunde und etlichen Geschichten später, ist er erschöpft. Und als dann noch die Angehörigen von Frau Walter auftauchen (und später Frau Walter selbst, eingezwängt und festgeschnallt in ihrem Rollstuhl, der Blick wie immer starr und teilnahmslos geradeaus), verstummt er endgültig.

"Mensch, Sie können ja eine richtige Quasselstrippe sein!", sagt Schwester Maria jetzt und schaut von ihrem Papierkram hoch.
"Wenn die Oma da ist, redet er nie so viel.", fügt sie an.
Und dann erzählt sie, wie das morgens immer abläuft, wenn Opa fertig gemacht wurde und in den Gemeinschaftsraum geschoben wird. Dann wartet er immer schon auf Frau Walter. Oder Frau Walter wartet schon auf ihn.
"Sie sollten mal sehen, wie die beiden die Hälse recken, um zu schauen, wann der andere kommt. Und dann spielen sie zusammen Mensch Ärgere Dich Nicht"
"Ich glaube, das werde ich Oma mal besser nicht erzählen", sage ich.
Auch jetzt wirft er immer wieder einen verstohlenen Blick hinüber zum Nachbartisch, wo Frau Walter mit starrem Blick den Würfel auf den Tisch fallen lässt.
"So, so. Frau Walter und du, ihr spielt also jeden Tag zusammen?", frage ich und er gibt mir wieder nur sein ratloses Achselzucken. Scheinbar auch kein Thema, auf das er jetzt Bock hat.

"Du müsstest auch mal so viel reden wenn Oma da ist", sage ich zum Abschied. Er nestelt an seiner Zeitung herrum, die vor ihm auf dem Tisch liegt.
"Für Oma ist das wichtig. Das würde ihr gut tun, wenn sie sich mal wieder mit dir unterhalten könnte!" Er nickt stumm und schaut mich mit großen Augen an. Ich hoffe, er kann sich morgen noch an meine Worte erinnern, wenn es soweit ist.

Als ich gehe, drehe ich mich am Ende des Ganges noch einmal um. Da sitzt er immer noch am Fenster in seinem Rolli und streicht mit der flachen Hand über die Zeitung. Er wirkt ein wenig teilnahmslos, wie vergessen. Aus der Ferne sieht er aus wie immer, nur das eben nichts mehr so ist, wie es mal war. Und dann plötzlich, dreht er den Kopf und schaut hinüber - zu Frau Walter.
Der alte Mann. Was mag der wohl denken.

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