Mittwoch, 20. Oktober 2010

Teddy - Teil 2


Er lag in einer Ecke, döste und scherte sich nicht um den Trubel um ihn herum.
Während die anderen Hunde meinen Vater begrüßten, wild bellten (manche sprangen sogar wie verrückt auf und ab), lag er - ganz die Ruhe selbst - im Hintergrund und streckte alle Viere von sich.
Mein Vater stand vor dem Käfig und verspürte Erleichterung.
"Welchen meinen 'se denn?", fragte der Tierpfleger und mein Vater deutete auf den schlafenden Flokatiteppich.
"Den Teddy? Den könn'se haben"
Man hätte denken können, der Hund hatte auf meinen Vater gewartet. Als der Tierpfleger den Zwinger betrat und die anderen Hunde nervös um seine Beine gingen, wohl wissend, dass einer von ihnen gleich in die Freiheit entlassen würde, stand Teddy langsam auf, gähnte, streckte sich genüsslich und schmatzte ein wenig mit der Schnauze, bevor er sich dem Wachpersonal zuwandte. Noch bevor der Man im Overall etwas sagen konnte, stand der Hund auf und lief zum Ausgang.
"Na det klappt ja!", sagte er und kurz darauf standen sie sich zum ersten Mal gegenüber: Auf der einen Seite meine Mutter und mein Vater, auf der anderen Seite Teddy, der jetzt freundlich mit dem buschigen weissen Schwanz wedelte und die beiden neugierig ansah.
"Sie sind denn die Dritten, die det mit dem versuchen", sagte der Pfleger und ich kann nur vermuten, dass meiner Mutter in jenem Moment mulmig zumute wurde. Mein Vater hingegen hatte keine Zweifel. Das war der Hund.
"Aber der is kinderlieb! Da machen'se sich ma keene Sorgen!"
Nachdem der Papierkram erledigt war, gab es noch eine Leine und ein Halsband (sowie etwas Hundefutter - war ja Sonntag) zum Abschied und dann standen sie vor dem Heim, mein Vater ebenso verunsichert wie meine Mutter.
"Der gehört ja wohl jetzt zur Familie", sagte meine Mutter und mein Vater konnte keineswegs sicher sein, dass das nett gemeint war.
Noch bevor sich meine Eltern Gedanken machen konnte, wie sich das Tier im Auto verstauen liesse, sprang er kurzerhand durch die geöffnete Beifahrertür in den Fussraum und fortan war dies, von Ausnahmen einmal abgesehen, sein Stammplatz.
In den kommenden Tagen und Wochen lebte sich Teddy mühelos bei uns ein. Genau genommen mussten wir uns wohl mehr an ihn gewöhnen, als er sich an uns. Er kam in die Wohnung, lief einmal durch alle Zimmer, achtete dann genau darauf, wo wir uns aufhielten und legte sich dann zufrieden ins Wohnzimmer und schlief ein.
Als ausgewachsener Rüde war er stubenrein, ging brav an der Leine (und zog manchmal, wenn er es eilig hatte), bellte ab und an, wenn jemand durch den Hausflur ging, verhielt sich aber ansonsten ruhig. Er war eine Seele von Hund und je länger wir in hatten, um so mehr fragten sich meine Eltern, warum der Fellball bereits zwei Mal im Tierheim abgegeben worden war. Irgendetwas musste mit dem Vieh doch nicht stimmen?
Und dann kam der Tag, an dem wir rausfanden, was mit Teddy nicht okay war.
Wir hatten es uns angewöhnt, am Wochenende mit Teddy in den Grunewald zu fahren und ihn dort im Grunewaldsee baden zu lassen. Halb Berlin findet sich zum Wochenende dort ein und führt seine Vierbeiner aus und seit Jahrzehnten hat sich daran nichts geändert - heute wie damals™.
Am Anfang kam mein Vater noch mit, aber dann, als der Hund nicht mehr wirklich neu (und deshalb auch nicht mehr ganz so spannend) war, übernahm meine Mutter nach und nach dem Job, sich um Teddy zu kümmern. Und diese Aufgabe ging dann langsam aber sicher zur Gänze auf sie über, bis mein Vater nichts mehr machte - auch nicht Gassigehen. Sicherlich, mein Vater hing an dem Hund. Aber da er den ganzen Tag arbeiten ging (also mein Vater, nicht der Hund), und meine Mutter deshalb schon einen Großteil der anfallenden Verpflichtungen den Hund betreffend übernahm, ergab es sich, dass der Hausherr schliesslich kaum noch etwas mit dem Hund unternahm.
Eines Tages fuhr dann also meine Mutter mit Teddy gerade zum Grundwald, Richtung Giftbude, als der Hund sich plötzlich im Fussraum des Beifahrersitzes aufbäumte und offenbarte, warum man ihn bereits zwei Mal ins Tierheim verbannt hatte:
Er machte einen krummen Rücken und begann wie verrückt zu zucken. Es war zunächst erschreckend, aber dann erkannte meine Mutter, dass der arme Hund nicht etwa einen epileptischen Anfall hatte, sondern stattdessen eine unsichtbare Lufthündin bestieg und sie heftig begattete. Es war ein dreissig Kilo schwerer, kompakter, weissbrauner Fellklumpen, der sich  mit der unsichtbaren Hundedame "Lady Sunshine" vergnügte, bis er plötzlich einen Schwall Hundesperma auf die Fussmatte ejakulierte, hilflos noch ein wenig weiterzuckte, bis er sich mühsam wieder unter Kontrolle hatte und erschöpft in die eigene Soße plumpsen liess (viel Platz war ja in dem Fussraum nicht). Irritiert schnüffelte er an seiner eigenen Wichse. Wo kam die denn her?, schien er sich zu fragen.
"Ach du Scheisse", machte meine Mutter. Fast wäre sie vor Schreck jemandem hinten drauf gefahren, was als Allegorie schon sehr passend war.
"Er hat die ganze Fussmatte versaut!", gab sie erbost zu Protokoll und der Hund saß daneben und schaute fröhlich, sich keiner Schuld bewusst. Mein Vater kratzte sich am Kopf und schaute ratlos. Und ich wusste nicht, worum es ging. Sperma? Davon hatte ich noch nie gehört. Klang wie Schnupfen.
Dieses Schauspiel wiederholte sich in den kommenden Monaten ab und an. Und als ich es einmal mitbekam (wir waren gerade auf dem Weg zum Teufelsberg auf der A100 Richtung Norden), musste ich wie verrückt kichern, während meine Mutter, die jetzt auf dem Beifahrersitz saß, den Hund zwischen die Beine gequetscht, panisch versuchte, ihre Beine in Sicherheit zu bringen (erfolglos, der Köter wichste ihr auf die Hosen).
"Das ist das Autofahren...", mutmaßte mein Vater, "Das Wackeln und vibrieren. Das macht ihn scharf!"
"Er hat auf meine Hose gespritzt! Mir ist es scheissegal, warum der das macht!", schimpfte stattdessen meine Mutter, in diesem Moment gänzlich humorlos. Ich lachte und der Hund, als er fertig war, schaute unschuldig - ja fast sogar ein wenig peinlich berührt.
Einmal bekam Teddy seine "Rammelattacke", wie wir es nannten, am Kontrollpunkt Dreilinden, als wir gerade auf den zweiten Grenzposten zurollten, wo wir unsere Pässe zurück bekommen sollten. Wieder saß meine Mutter auf dem Beifahrersitz, als das Gezucke anfing. Und als der Vopo, unsere Ausweise begutachtend, gerade in den Wagen schielte, saute Teddy wieder einmal ins Wageninnere.
"Wos hottn der Hund do?", fragte der Vopo, und meine Eltern wussten nicht, was sie sagen sollten.
"Der hat 'ne Rammelattacke", sagte stattdessen ich und der Vopo nickte. Wir verstanden uns.
So konnte es nicht weitergehen, beschloss meine Frau Mutter, und da sie ein durchaus praktischer Mensch ist, vereinbarte sie einen Termin beim Tierarzt, der ihm kurzerhand die Bommeln absäbelte.
"Der quält sich doch nur", meinte meine Mutter und auch wenn ich noch klein war, war die Vorstellung, dass man die "Eier amputierte" (wie mein Vater das nannte), doch ziemlich furchteinflößend.
Aber die Kastration löste das Problem. Fortan war Ruhe im Renault R 16 und spätestens ab da war Teddy der perfekteste Hund der Welt.
1979 holten sich meine Großeltern einen Cockerspaniel namens Bobby.
Vor dem ersten Zusammentreffen zwischen Bobby und Teddy hatten alle etwas Bammel, denn zwei Rüden, einer davon der Alte, der andere der Neue, ob das gutgehen würde? Aber Teddy kam in die Wohnung meiner Großeltern, sah den kleinen Bobby, lief auf ihn zu und schleckte ihm einmal breit über die Schnauze, um dann in die Küche abzudrehen. "Futter?"
Alle waren sehr erleichtert. 
Während Bobby immer die sehr englische Reserviertheit eines Zuchthundes beibehielt, war Teddy als Promenadenmischung eher der weltoffene Charakter. Er verstand sich mit so ziemlich jedem Hund, der ihm auf der Strasse oder im Wald über den Weg lief.
Aber er konnte auch anders.
Anfang der Achtziger fuhren wir regelmäßig in ein Ferienhaus in ein kleines Kaff in Hessen, und auf einer Reise begleiteten uns meine Großeltern samt Bobby. 
Eines Abends gingen wir spazieren, liefen mit den Hunden durchs Dorf und dachten an nichts Böses, als plötzlich ein Rudel Dorfköter um die Ecke geschossen kam und sich sofort auf Bobby stürzte. Bobby verschwand unter einem Bündel Hunde, es gab Gekeife, Gebrüll und Gejaule - meine Großeltern und wir anderen hilflos, überfordert, ja kopflos, so ein Getümmel war das, von jetzt auf gleich.
Der Einzige, der den Durchblick behielt, war Teddy. Jetzt zahlten sich seine Tierheimaufenthalte aus. Ihm machte keiner etwas vor, und so stürzte er sich laut kläffend auf den größten Hund, den er finden konnte, ging ihm an den Nacken und schleuderte ihn von sich weg. Der weisse Flokatiteppich wurde von jetzt auf gleich zum Raubtier, doppelt so breit, die Bürste bedrohlich aufgestellt, die Zähne gefletscht. Der andere Hund rutschte jaulend über den Asphalt, und noch ehe er begriff, wie ihm geschah, war Teddy wieder über ihn und schnappte nach seinem Hals. 
Wer auch immer dieser Hund war, in jenem Moment erkannten wir nicht mehr den knuddeligen, knuffigen Teddy. Dieser Hund machte gerade irgendwo einen Ausflug, und Dr. Jekyll hatte Mr. Hyde da gelassen.
Interessanterweise ging einen Ruck durch das gegnerische Rudel und sie liessen von Bobby ab.
Scheinbar hatte Teddy sich den Anführer herausgesucht, und um den war es schon nach kurzer Zeit nicht sehr gut bestellt - jaulend zog er sich zurück, und seine Meute verstummte und trippelte irritiert hinter ihm her. Was war hier los?, schienen ihre Gesichter zu fragen und Teddy stand breitbeinig und aufgeplustert, die Zähne gebleckt, knurrend vor ihnen. Er ließ keinen Zweifel daran: Er war in der Stimmung, ein paar Dorfköterärsche aufzureissen.
Langsam trat die Bagage den Rückzug an, ebenfalls knurrend, mit aufgestellten Hahnenkamm. Aber Teddy trieb sie vor sich her, bis mit einem Mal der Anführer umdrehte und davonlief, und seine Spießgesellen ihm folgten. Tipp, tripp, trapp, waren alle um die nächste Häuserecke verschwunden.
Und da drehte sich Teddy um und lief auf uns zu, ganz der Alte, als wenn nie etwas gewesen wäre, und schleckte Bobby über die Schnauze, ganz so, als wollte er sagen "war doch alles nur halb so wild. Hast ja mich!", während der englische Jagdhund noch benommen auf dem Boden hockte.
Diese Geschichte wurde zur Legende und Oma erzählt sie manchmal heute noch, wenn wir auf "Früher" zu sprechen kommen.
Überhaupt war der ganze Hund irgendwie legendär. Er hatte diese Gemütsruhe, die man sonst nur bei Golden Retriever findet (die Pummelfee ist so ein Gemütstier). Oft lag ich im Wohnzimmer auf dem Fussboden, spielte mit Lego oder Playmobil und benutzte Teddy dabei als Kopfkissen. Dann lag er nur da, mit meinem Kopf auf seinem riesigen Brustkorb, und schnaufte zufrieden.
Mit der Kastration hörte auch das gelegentliche Bellen auf, wenn jemand die Treppen hinauf ging und am Ende konnte niemand verstehen, warum dieser Hund jemals ein Tierheim von innen gesehen hatte.
Er liebte es, baden zu gehen. Und wenn er richtig schön nass war, wälzte er sich mit Wonne im Sand, bis der weisse Hund keine weisse Stelle mehr am Körper hatte. Dann musste man ihn abermals ins Wasser jagen, denn wie - bitte schön - hätte man dieses Wildschwein im Auto nach Hause transportieren sollen?
Er kannte keine Vorurteile, er war zu jedem gleichermaßen freundlich. Und doch unterschied er zwischen seinem Rudel, zu dem unsere gesamte Familie zählte, auch Bobby, und anderen. Bei anderen ging er manchmal auf Abstand, wenn es ihm zu viel wurde - wir hingegen durften alles mit ihm machen.
Er vertraute uns bedingungslos und wir vertrauten ihm ebenso. Damals lernten wir alle, warum man sagt, dass der Hund der beste Freund des Menschen ist.
Wir wussten nie, wie alt er war. Es gab grobe Schätzungen, aber niemand wusste etwas genaues.
1983 war er ungefähr zehn Jahre alt.
1983 fuhren wir in den Sommerferien nach Lechbruck am Inn und dieser Urlaub wurde der reinste Horror.
Ich bekam eine Lungenentzündung, mein Großvater eine Bronchitis. Mein Vater hatte mit spastischen Lähmungen zu kämpfen und Teddy hatte ein paar üble Zeckenbisse.
Nachdem wir irgendwie die zwei Wochen in Bayern herumbekommen hatten, traten wir gezeichnet die Heimreise an. Die Rückfahrt wurde ein Kraftakt. Mein Vater schwer krank, mein Großvater erst langsam auf dem Weg der Besserung. Ein Alptraum.
Wir Menschen wurden langsam wieder gesund, aber Teddy wurde immer ruhiger. Er lag nur noch im Wohnzimmer, verweigerte die Nahrungsaufnahme, an seinen Ellenbogen bildeten sich offene Stellen. Meine Mutter legte ihm mit Kamillentee getränkte Verbände um, aber das half nicht fiel. Er konnte sich kaum aufraffen, das Haus zu verlassen, und anstatt draussen fröhlich herumzuspringen, erledigte er nur schnell sein Geschäft und trottete dann unwillig zurück in die Wohnung.
Er verfiel zusehens, aber es war nicht auszumachen, was ihm eigentlich fehlte.
Eines Tages war ich draussen spielen, und als ich nach Hause zurückkehrte, fragte ich, wo meine Mutter sei.
"Sie ist mit Teddy beim Tierarzt", sagte mein Vater und etwas in seiner Stimme beunruhigte mich.
Eigentlich hatte ich nur etwas trinken wollen, um dann wieder raus zu gehen. Aber jetzt blieb ich und wartete auf die Rückkehr meiner Mutter.
Die Zeit zog sich schier endlos hin und als ich endlich ihr Schlüssel in der Tür hörte, traute ich mich nicht, aufzustehen.
Dann stand sie im Wohnzimmer, nur mit der Leine in der Hand und ich wusste, was das zu bedeuten hatte, auch wenn ich es nicht glauben wollte.
"Er war ganz ruhig, als sie ihn eingeschläfert haben", sagte sie später einmal.
"Er hat uns grenzenlos vertraut."
Meine Mutter hatte ihn nicht alleine gelassen.
Borreliose. Er muss am Ende unglaubliche Kopfschmerzen gehabt haben, sagte der Arzt.
Wir denken heute immer noch sehr oft an das zottelige Fellfass. Auch noch nach fast 30 Jahren. 

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