Freitag, 17. September 2010

Eine Geschichte vom Abstumpfen

Wir erinnern uns: Er kam vor neun Monaten ins Krankenhaus, man entfernte ihm einen fiesen Tumor, der sich in seinem Enddarm breit gemacht hatte, und verbrachte ihn nach einer technisch einwandfreien OP auf die Intensivstation, wo er gesunden sollte.
Was dann voll in die Hose ging.

Was folgte, war eine Verkettung von... nennen wir es mal: unglücklicher Umstände:
Ein postoperativer Delir, sozusagen Demenz per Anästhesie, gefolgt von einer Fixierung am Bett um ihn daran zu hindern, sich ständig die Schläuche aus dem Körper zu reissen. Aus der Fixierung wurde ein länger andauernder Aufenthalt in der Horizontalen, was eine saftige Lungenentzündung nach sich zog.
Früher einmal nannte man eine Lungenentzündung auch den "sanften Tod", welcher alte Menschen schmerzlos vom Diesseits ins Jenseits beförderte. Heute aber gibt es die moderne Intensivmedizin, und da stirbt es sich nicht so einfach.

Er konnte nicht mehr selbstständig atmen, essen trinken. Also setzte man ein Tracheostoma und eine Nasensonde. Später dann folgte eine PEG Sonde durch die Bauchdecke. Der Aufenthalt auf der Intensivstation währte mittlerweile über zwei Monate, der Schnee draussen war geschmolzen, aus Winter war Frühling geworden.
Dem Krankenhaus wurde das alles langsam zu teuer. Also musste er raus aus dem Haus. Und weil er nicht mehr nach Hause konnte, weil der Pflegeaufwand, den man bei jemanden in seinem Zustand treiben muss, exorbitant ist, musste er irgendwo untergebracht werden. Dafür hat man sich sogenannte Beatmungs-WG's ausgedacht, wo lauter Halbtote mit Luftröhrenschnitte zusammengeführt und von... naja, angeblich examniertem Pflegepersonal betreut werden.
Wir erfuhren an einem Donnerstag im April, dass er die Woche darauf entlassen werden sollte, wurden schnell mit dem Sozialdienst zusammengebracht, der uns eine Einrichtung empfahl und PENG: Fünf Tage später fuhr ihn ein Krankenwagen nach Berlin Mitte in eben so eine Beatmungs WG.
Dort blieb er ein paar Wochen, dann kam die nächste Lungenentzündung und damit auch der nächste Krankenhausaufenthalt. Wieder hing sein armseliges Dasein am seidenen Faden, wieder musste er fixiert werden, alles wurde mit Zugängen und Schläuchen zugepflastert, die Intensivmedizin vollbrachte abermals das Wunder, einen an sich dem Tod geweihten Menschen weiterleben zu lassen.
Anderes Krankenhaus, anderer Sozialdienst. Man trat an uns heran und verkündete, dass die Einrichtung, wo er gerade zu Hause war, keinen guten Job machte. Zum Beispiel das Absaugen.
Er kann ja nicht mehr schlucken, und alles, was wir so runterschlucken, läuft bei ihm irgendwo hin, nicht selten in die Lunge. Also wird er mehrmals täglich abgesaugt. Dazu steckt man einen schlanken Silikonschlauch durch den Luftröhrenschnitt tief bis in die Bronchien, während eine elektrische Pumpe ihr Werk verrichtet. Dazu soll der Patient bestenfalls kräftig husten, tatsächlich wird aber der Patient bei der Prozedur regelmäßig ziemlich blau, husten, spuckt und krampft unkontrolliert, während es gurgelt, blubbert und schleimt was das Zeug hält. Es beschreibt sich schwer, wie es ist, wenn man so etwas das erste Mal miterlebt.

Umversorgung - so nennt man es, wenn jemand von einer Einrichtung in eine andere verlegt wird.
Neue Einrichtung, neues Glück. Der letzte Krankenhausaufenthalt, vier oder fünf Wochen lang, war vorbei, mittlerweile hatte die Fussball WM begonnen, es war Sommer, und wir, die wir noch ein normales Leben hatten, machten Ferien. Es wurde auch Zeit, die letzten Monate hatten uns ausgelaugt. Also fuhren wir weg, nach good ol' España, und kurz bevor der Flieger uns wieder nach Hause bringen sollte, nach eine kurzen aber fantastischen Woche, klingelte das Mobiltelefon. Diesmal: Herzinfarkt, wieder Intensivstation, wieder alles auf der Kippe.
Ich stand auf der Plaza Mayor mitten in Madrid und hörte sie mal wieder sagen: "Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen. Das wird nichts mehr! Er stirbt!"
Und ich dachte nur: Na hoffentlich.
Mir war alles egal. Ich wollte nur das Telefonat vernünftig zu Ende bringen und mich wieder auf den Urlaub konzentrieren. Ich wollte mit alle dem jetzt nichts zu tun haben. Nicht jetzt. Ich wollte mir die kurze, schöne Zeit nicht kaputt machen lassen.
Stunden später, wir waren mitten in der Nacht mit zwei Stunden Verspätung aus dem Flieger gefallen, und hatten nach über einer Woche endlich wieder die kleine Madame in die Arme geschlossen, sprachen wir über den Urlaub, die Sonne, unsere Erlebnisse, ob mit dem Haus alles in Ordnung war, wie es dem Schnaufhasen ging - wir sprachen über alles, aber sein Elend war weit weg für mich. Er hätte in jenem Moment sterben können, und ich weiss nicht, was ich empfunden hätte.

Er starb natürlich nicht, es folgte ein fünf wöchiger Krankenhausaufenthalt und jetzt ist er wieder in der Einrichtung. Man kann sogar sagen, dass es ihm den Umständen entsprechend ganz gut geht. Er kann immerhin Mensch Ärgere Dich Nicht spielen.
Aber er wird nie wieder essen können. Oder laufen. Oder trinken. Oder sprechen. Er wird nie wieder nach Hause kommen.
Wenn man weiss, was für ein selbstbestimmtes Leben er bis Januar zusammen mit ihr geführt hat, wie beide alles mit sich ausgemacht und für sich geregelt haben, dann ist das, was von dem alten Mann noch übrig ist, nur ein kleines Häufchen Elend. Es ist deprimierend, erschreckend und hoffnungslos. Man denkt, dass der Tod der einzige Weg in Würde ist.

Im Frühjahr hat mich das alles sehr mitgenommen. Die Situation war neu und deprimierend und schon damals hoffnungslos. Wir hatten ja unser Leben zusammen verbracht, als ich klein war, haben wir zusammen endlose Spaziergänge unternommen, zusammen mit Bobby, dem Cockerspaniel. Wir haben in der Weihnachtszeit die Modelleisenbahn vom Dachboden geholt und aufgebaut und gemeinsam mit Super-8 Filmen experimentiert. Ich war als Kind jedes zweite Wochenende bei den beiden und wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an den Duft von Kaffee und Toast am Sonntagmorgen. Und dann kam im Januar der Krebs und ich dachte "naja, mit 85 Lebensjahren holt es einen irgendwann", aber dann holte es ihn nicht und stattdessen wurde alles nur ein großer sarkastischer Witz vom Sterben.

Die meisten Stunden des Tages denke ich nicht an ihn. Das ist jetzt anders als im Frühjahr. Und wenn ich an ihn denke, dann packt mich nicht mehr sofort der blanke Horror. Ich bin abgestumpft, denke ich dann, aber meine Physiotherapeutin meint, dass sei zu hart formuliert - ich würde die Situation akzeptieren. Und dann frage ich, ob Akzeptanz nicht auch eine Form des Abstumpfens ist und darauf wissen wir beide keine Antwort.
"Ich glaube nicht", sagte die Physiotherapeutin, aber das klang auch nicht überzeugt.

Vielleicht ist es ja so, dass man garnicht anders kann, als eine Gleichgültigkeit entwickeln. Vielleicht ist das ein fest vorgegebenes Programm, dass da in Gang kommt. Möglicherweise hat das ja alles so seine Richtigkeit. Trotzdem... eines Tages, und man wird selbst anderen Menschen so egal sein.
Und wenn einem das keine Angst macht, dann weiss ich auch nicht...

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